Köln | Lucyna Filip, Historikerin im Archiv der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau (Panstwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau w Oswiecimiu) war gestern Abend zu Gast im NS Dokumentationszentrum der Stadt Köln. Sie sprach über die Entwicklung des jüdischen Lebens in Oswiecim (OÊwiçim) und der dortigen jüdischen Community von den ersten Anfängen in der zweiten Hälfte des 15 Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg und heute. Oswiecim, die polnische Stadt, die die Nazis Auschwitz nannten.

Seit 2000 wohnt kein Jude mehr in Oswiecim

Lucyna Filip hat ein Buch über die Geschichte einer der großen jüdischen Communitys Polens geschrieben. Der Titel »Zydzi w OEwicimiu 1918 – 1941«, in der deutschen Übersetzung »Juden in Oswiecim 1918–1941«. Die jüdische Gemeinde von Oswiecim hat sich von Anfang an gut entwickelt, auch wenn es zu Zeiten von Maria Theresia und Josef II auch schwierige Zeiten gab und von der jüdischen Bevölkerung verlangt wurde sich zu assimilieren. Dennoch über viele Jahrhunderte genoßen Juden in der Stadt Religionsfreiheit, beteiligten sich am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Leben. Von 1890 bis 1939 lebten immer mehr Juden in der wachsenden Stadt und machten immer mehr als 50 Prozent der Bevölkerung aus. 1939 über 7.000 Juden. Dann kam der Krieg und die Nazis. Die jüdische Bevölkerung, die nicht emigrieren konnte wurde deportiert in die Ghettos nach Bendsburg, Krenau und andere. Später wurden viele von Ihnen zurückgebracht nach Auschwitz, in das Vernichtungslager, wo sie ermordet wurden. Als Lucyna Filip die Listen einblendet ist es ganz still im NS-DOK. Und sie sagt dies seien nur Bruchteile, die man kenne, es gebe keine vollständigen Listen. Am 22.5.1945 lebten nach der Befreiung 27 Juden in Oswiecim. Am 25.9.1945 waren es 186 Juden von 7.304 Einwohnern. Das waren 2,55 Prozent der Bevölkerung. Es sei nicht gelungen in Oswiecim wieder jüdisches Leben aufzubauen, im Jahr 2000 verstarb der letzte jüdische Einwohner. Heute, so die Autorin besuchten viele Juden Oswiecim, aber keiner lebe mehr dort.

Ein breites jüdisches Leben und Miteinander bis die Nazis kamen

Elya Kanter, geboren 1929 in Oswiecim und ihr Bruder Leonid Fish, geboren 1923 in Oswiecim waren auch zu Gast im NS-DOK. Sie sind Zeitzeugen, erzählen lebendig aus ihrer Geburtsstadt. Von Fischkisten im Fluss und polnischen Fischern, die Elya vor dem Ertrinken retteten, von der Schulzeit in der polnischen Schule und der Religionsschule und dem Leben in der Altstadt. Sie seien eine arme Familie gewesen, der Vater Schneider, die Mutter half ihm. Die Familie mit sechs Kindern lebte auf zwei Zimmern mit Toilette auf halber Treppe. Es habe damals keine Diskriminierung in der Stadt gegeben, die Kinder und Jugendliche egal ob jüdisch oder polnisch spielten miteinander. Wichtig sei es gewesen einen Beruf zu bekommen, etwa in der Bürstenfabrik. Mit dem Kriegsbeginn 1939 änderte sich dies schlagartig. Die Familie floh nach Lemberg in den russischen Teil Polens und später in den Donbask in die Ukraine in die Nähe von Donezk. Dort habe der Vater Arbeit gefunden. Als der Krieg auch dorthin kam, ging es weiter nach Usbekistan.

Leonid Fish sprach auf Jiddisch und sang Lieder. Es waren bewegende Augenblicke im NS-DOK. Er erzählt von der ersten Bombe auf Oswiecim und dass er sich später für die Rote Armee gemeldet habe. Da er aber keine Papiere hatte war, dies am Anfang schwierig. Aber er wurde aufgenommen, kämpfte in Stalingrad und kam über die Ukraine, Belarus bis nach Berlin. 1946 ging es dann zurück in den Donbask.

Es gab mehrere Synagogen in Oswiecim, die große Synagoge wurde 1939 in Brand gesteckt. Heute gibt es noch eine, die Dank Spenden aus den USA wieder renoviert wurde, es ist die „Lomdei Misznajot“. Dort wo einst die große Synagoge gestanden habe wurde 1977 der in Kisten versteckte „Schatz“ wieder ausgegraben. Ein großer jüdischer Friedhof wurde wieder aufgebaut. Er lag im Mittelalter außerhalb der Stadtmauern. Auch er wurde von den Nazis verwüstet, Grabplatten wurden für den Straßenbau zu den Buna-Werken verwandt. Heute gibt es ihn wieder mit den Grabplatten, die man wiedergefunden hat. Aber längst nicht alle sind wiedergefunden worden oder noch lesbar. 900 sind gefunden, 700 lesbar. Es gab einmal acht Chederschulen und eine Jeschiwaschule, sechs Wohltätigkeitsorganisationen, von der Alten- und Krankenpflege bis zur Versorgung von Armen. Mehrere Parteien nahmen am politischen Leben teil und einen blühenden Handel. 70 Geschäfte wurden von der jüdischen Bevölkerung betrieben, nur wenige von der polnischen Bevölkerung und auch die großen Industrieunternehmen wurden von Juden geführt. So die Bürstenbinderei oder die Wodka- und Likörfabrik von Alfons Haberfeld, dessen Getränke es sogar auf die Weltausstellung nach New York geschafft hatten. Eine Reise zu ebendieser rettete Haberlanda und seiner Frau das Leben, aber sie konnten nie wieder ihren Besitz zurückerhalten. Heute ist die Fabrik und das Gebäude verfallen. Und sie stellten den stellvertretenden Bürgermeister und engagierten sich in der Kommunalpolitik.

Nach dem der Krieg begonnen hatte, änderte sich für über 7.000 Juden die Lebensbedingungen dramatisch. Sie mussten weiße Armbinden mit dem Judenstern tragen und wurden zur Zwangsarbeit rekrutiert. Bei einem Bombenangriff war eine Brücke beschädigt worden, hier mussten die Zwangsarbeiter bei den Aufräumarbeiten helfen oder den Schnee in der Stadt räumen. Am 26.2.1941 begannen die Deportationen. Diese waren am 2.7.1941 abgeschlossen. 5.000 Juden aus Oswiecim waren auf die Ghettos verteilt und viele von ihnen dann zwischen April 1942 bis August 1943 wieder nach Auschwitz – in ihre Heimatstadt gebracht wurden. Dort wurden sie ermordet. Wie viele und wann, dazu gebe es so Historikerin Lucyna Filip. Lucyna Filip trägt Fakten zusammen. Sie interpretiert nicht, denn sie weiß das muss sie nicht, denn diese sprechen eine klare und eindeutige Sprache. Sechs Jahre und über 50 Prozent der Einwohner einer Stadt sind auf 2,5 Prozent durch Völkermord minimiert. Kultur, Handel, soziales Leben, religiöses und politisches Leben pulverisiert.

Lucyna Filip: Juden in Oswiecim (OÊwiçim) 1918–1941, Verlag Scientia Oswiecim 2005.

[infobox]Veranstaltungshinweis: Am 12. Mai 2015 um 18 Uhr wird im Filmhaus Maybachstraße der Film zur Lebensgeschichte von Elya Kanter und Leonid Fish gezeigt. Beide werden anwesend sein. Kanter und Fish beschreiben ihr Leben von Oswiecim bis Köln-Porz, wo beide heute leben. Elya Kanter und Leonid Fish stehen nach dem Filmbeitrag für ein Gespräch zur Verfügung.

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Autor: Andi Goral
Foto: Leonid Fish, Lucyna Filip und Elya Kanter im NS DOK