Berlin | Es klingt wie der ideale Zusammenschluss in einem ganz modernen Deutschland: Anne Goldenbogen leitet mit ihren männlichen Kollegen Aycan Demirel und Mirko Niehoff als Vorstand einen Verein. Drei Namen, drei verschiedene Geschichten dahinter – aber ein Ziel: die eigene Abschaffung mangels Bedarfs. Das Team und seine Helfer nennt sich Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA). Im Internet informiert der Verein über seine Ziele auf Deutsch, Englisch, Französisch, Türkisch, Hebräisch und Arabisch. Am Mittwoch (16. Januar) wird Goldenbogen für ihr Engagement in Düsseldorf mit dem Paul-Spiegel-Preis 2013 geehrt. Er wird vom Zentralrat der Juden in Deutschland verliehen.

„Die Auszeichnung ist mit 5.000 Euro dotiert. Wir können das Geld ziemlich gut gebrauchen“, betont Goldenbogen, eine junge Frau mit jüdischen Wurzeln. Die Politikwissenschaftlerin und Mitbegründerin von KIgA sagt das mit Nachdruck, denn der 2003 gegründete Verein hat für das laufende Jahr noch keine so richtige Planungssicherheit – wie stets. Mehr noch: Obwohl die Verleihung des Preises bekannt ist, muss der Verein um die Weiterführung eines Bundesmodellprojekts als Teil seiner Arbeit kämpfen. „Uns fehlt einfach grundsätzlich eine institutionelle Absicherung. Wir hangeln uns von Projekt zu Projekt.“ Später ist sogar von akuten existenziellen Nöten die Rede, was auch ihr Kollege Malte Holler bestätigt.

Mit Auszeichnung in die Pleite

Ohne Geld ist auch das beste Anliegen zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn es um das längst überwunden geglaubte Phänomen Antisemitismus geht, selbst in Deutschland. „Wir haben acht Mitarbeiter und diverse Honorarstellen“, beschreibt Holler, seines Zeichens Historiker, den Personalbestand. „Wir sind ein gemischtes Team mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten sowie verschiedenen religiösen und kulturellen Wurzeln. Wir entwickeln Konzepte zum Umgang mit Antisemitismus für die Migrationsgesellschaft als Ganzes.“ Ihren Sitz haben sie am wohl größten Schmelztiegel Berlins, der Oranienstraße. Sie sind in Schulen, Vereinen und anderen Initiativen unterwegs. In Berlin und bundesweit. Sie geben Schriften heraus und bieten Arbeitsmaterialien an.

Ausgezeichnet werden sie alle, weil KIgA etwas recht seltenes übt: Den unaufgeregten und sachlichen Umgang mit Antisemitismus. Dafür wird die „Kunst des Gesprächs“ gepflegt, schildert Goldenbogen die Herangehensweise. Die Methodik sei „bunt, spaßig, spielerisch“, es gehe „lebensnah“ zu.

Wie auch immer gerade die Zusammensetzung zum Beispiel einer Schulklasse sei, es müsse auf Augenhöhe diskutiert werden, lautet ein Grundrezept von Goldenbogen. Moralerziehung sei tabu. „Wir pflegen keine Logik des Verdachts, sondern befleißigen uns offen zu sein und führen Debatten ohne eine Beschuldigungslogik.“

Das kann zum Beispiel mit einem Quiz aus dem Laptop sein: Die erste Frage lautet, wer wohl 1948 als Folge des israelischen Unabhängigkeitskrieges vertrieben wurde: „Palästinenser“ oder „Juden aus arabischen Staaten“. Antwort: sowohl als auch.

Zankapfel Nahost

Denn natürlich entzünde sich die Diskussion besonders an den Vorgängen im Nahen Osten, sagt Holler. Er spricht vom „Buh-Wort“ Israel. Dabei sei das Gespräch darüber durchaus möglich und oft einfacher als gedacht. Zwar müssten dann und wann gewisse Jugendliche erst einmal Dampf ablassen. Aber wer sich nicht provozieren lasse beziehungsweise nicht in die „Toleranzfalle tappe, könne eine solche Runde ganz gut leiten.

Goldenbogen weiß: „In Berlin leben rund 30.000 Palästinenser. Die freuen sich, wenn sie überhaupt mal über das Thema reden können. Wir reden zunächst erst einmal über die Ursache des Nahostkonfliktes.“ Dazu wüssten viele Jugendlichen nämlich am wenigsten. „Die freuen sich über Informationen.“ Wenngleich das Thema schon mit einer hohen Emotionalität belegt sei, sagt sie. Doch sobald den Schülern ein Perspektivwechsel ermöglicht werde und es Alternativen gebe, würden starre Schwarz-Weiß-Bilder aufbrechen.

Dabei wissen die KIgA-Leute auch: Dass Antisemitismus besonders unter Arabern verbreitet sein soll, ist nicht einmal empirisch bestätigt, erklärt Holler. Rein quantitativ gebe es eigentlich keine Unterschiede zu – so heißt das wirklich, zuckt er entschuldigend mit den Schultern – Herkunftsdeutschen. Nur im Ansatz würden sich beide Gruppen unterscheiden: Deutscher Antisemitismus sei eher durch eine „Erinnerungs- und Schuldabwehr“ begründet. Es gehe um Gefühle, Äußerungen fielen verhaltener und verbrämter. Araber sprächen direkter, weil ja die Schuld am Holocaust fehle, wie sie sagen, und rechtfertigten Vorurteile mehr mit dem Nahostkonflikt.

Die Botschaft für Sender und Empfänger lautet also: Die Welt ist noch nicht so, wie sie sein sollte.

Autor: Torsten Hilscher, dapd | Foto: Axel Schmidt/dapd
Foto: Malte Holler und Anne Goldenbogen von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA e.V.)