London | LIVEBLOG | Es ist der zweite Tag nach der Entscheidung der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union, dem „Brexit“. Berlin und Paris wollen die Einigung Europas vorantreiben. In London werden Unterschriften für ein zweites Referendum gesammelt und auch Schottland plant ein zweites Unabhängigkeitsreferendum und will unabhängig von London Verhandlungen mit der EU aufnehmen. Stimmen aus der EU, wie EU-Parlamentspräsident fordern von Großbritannien einen schnelle Reaktion auf die Entscheidung des Referendums. Der Tag danach im report-K Liveblog.

Koalition streitet über Brexit-Zuständigkeit

1:00 Uhr >Innerhalb der Koalitionsparteien CDU und SPD gibt es Unstimmigkeiten über die Kompetenzen im Umgang mit dem britischen Referendum. „Ein Konzept zur Zukunft der europäischen Kooperation wird hierzulande vom Bundeskanzleramt ausgehen müssen“, sagte der Vorsitzende des Ausschusses für die Angelegenheiten der EU im Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU), der „Welt am Sonntag“: „Das Auswärtige Amt ist mehr für die technischen Abläufe zuständig.“ Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Axel Schäfer, beanspruchte hingegen eine Federführung des Auswärtigen Amtes.

„Im Rat der Außen- und Europaminister wird traditionell die wichtigste Arbeit für den Zusammenhalt der EU geleistet“, sagte Schäfer der „Welt am Sonntag“. Die Rolle von Außenminister Frank-Walter Steinmeier sei „gerade jetzt für Europa unverzichtbar“. Schäfer fügte hinzu: „Alleine Angela Merkels Gipfeldiplomatie reicht weder der SPD noch für die EU insgesamt.“

Der außenpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Omid Nouripour, kritisierte das Brexit-Krisenmanagement Steinmeiers. „Es ist nicht besonders glücklich, wenn Frank Walter Steinmeier das Gespräch über die Zukunft der EU im kleinen Kreis zu führen beginnt“, sagte Nouripour der „Welt am Sonntag“. Deutschland müsse „jetzt gerade die kleinen Länder mitnehmen. Auch deutsch-französische Vorstöße ohne Polen sind eher kontraproduktiv.“

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EU-Parlamentspräsident will Austrittsantrag schon am Dienstag

22:50 Uhr > EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) hat Großbritannien aufgefordert, bereits beim Gipfel am Dienstag den Austritt aus der Europäischen Union zu beantragen. Schulz sagte der „Bild am Sonntag“: „Ein Zögern, nur um der Parteitaktik der britischen Konservativen entgegenzukommen, schadet allen. Eine lange Hängepartie führt zu noch mehr Verunsicherung und gefährdet dadurch Jobs. Deshalb erwarten wir, dass die britische Regierung jetzt liefert. Der Gipfel am kommenden Dienstag ist hierfür der geeignete Zeitpunkt.“ Manfred Weber (CSU), Chef der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament, kritisierte das Verhalten der britische Regierung.

Er sagte in „Bild am Sonntag“: „Die beginnende Verzögerungstaktik in London ist inakzeptabel.“ Weber plädierte für einen schnellen Austritt „innerhalb der geplanten Frist von zwei Jahren, besser sogar innerhalb eines Jahres“. Auch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) erhöht den Druck auf Großbritannien für einen schnellen Antrag: „Es wird niemand die Chance haben, auf Zeit zu spielen. Die Wirtschaft wird schnelle Klarheit einfordern. Investoren werden sich zurückhalten, bis sie wissen, was jetzt gilt: drinnen oder draußen.“ Die Austrittsverhandlungen seien „auch Verhandlungen über unser künftiges Verhältnis“.

Großbritannien bleibe der EU ein wichtiger Partner in Wirtschaft und Sicherheit. Sonderregeln nach einem Brexit schloß von der Leyen aus: „Wenn wir Sonderwege für Großbritannien definieren, werden sofort andere Partner wie Norwegen das Gleiche einfordern. Regeln müssen für alle gleich gelten.“ Ausdrücklich sprach sich die stellvertretende CDU-Vorsitzende gegen mehr Volksentscheide aus: „Was in Großbritannien passiert ist, sollte uns die Augen öffnen. Bei so existenziellen und folgenschweren Fragen ist das Risiko extrem groß, dass Populisten die Befragung für hemmungslose Stimmungsmache kapern.“ Populisten setzten auf Angst und Aggression und schreckten vor falschen Versprechen nicht zurück. Ablehnend äußerte sich von der Leyen auch gegenüber den SPD-Plänen für mehr Investitionen in Europa: „Wir sollten uns dringend davor hüten, zu glauben, dass wir offenkundige Probleme in der Wirtschaftsstruktur der EU mit Geld zuschütten können. Hohe Arbeitslosigkeit in einzelnen Regionen kann keine Gemeinschaft der Welt auf Dauer mit Geldspritzen von außen beseitigen. Für Wettbewerbsfähigkeit müssen die Nationalstaaten selbst die Weichen stellen“. Die EU könne nur sinnvolle Reformen verstärken.
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Berlin und Paris wollen politische Union vorantreiben

16:19 Uhr >Deutschland und Frankreich haben sich nach dem Brexit in einem gemeinsamen Papier der Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault für „eine immer engere Union unserer Völker“ ausgesprochen. „Wir werden daher weitere Schritte in Richtung einer Politischen Union in Europa unternehmen“, zitiert die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (F.A.S.) aus dem Papier mit dem Titel „Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt“. Die anderen europäischen Staaten seien eingeladen, sich diesen Bemühungen anzuschließen.

Deutschland und Frankreich machten sich für ein Europa stark, dass in der Welt „einheitlicher und selbstbewusster auftritt“. Zugleich müsse die EU sich auf die Herausforderungen konzentrieren, die nur durch gemeinsame europäische Antworten bewältigt werden könnten, „und alle anderen Themen regionalen oder regionalen Entscheidungsprozessen überlassen“. Frankreich und Deutschland müssten anerkennen, dass es unter den EU-Mitgliedsstaaten mit Blick auf die weitere Integration „unterschiedliche Ambitionsniveaus gibt“.

Konkret schlagen Deutschland und Frankreich eine gemeinsame europäische Sicherheitsagenda vor. Die EU solle zu einem unabhängigen globalen Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik werden und vor allem beim Krisenmanagement und der Krisenvorsorge aktiver werden. Zudem solle eine europäische Plattform für die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste der EU-Staaten eingerichtet werden.

Die Europäische Staatsanwaltschaft solle zukünftig auch mit der Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität befasst sein. Die Außenminister machen auch Vorschläge für eine gemeinsame europäische Flüchtlings- und Asylpolitik. „Eine Situation, in der die Last der Zuwanderung ungleichmäßig von eine begrenzten Zahl von Mitgliedstaten geschultert wird, ist auf Dauer nicht tragbar“, heißt es in dem Papier.

Ein bindender Mechanismus zur Lastenteilung sei nötig, um das Dublin-System „wetterfest“ zu machen. Die EU solle auch ein europäisches Einwanderungsrecht entwickeln, das die legalen Wege zur Arbeitsaufnahme in Europa aufzeigt. Zur Verbesserung des Grenzschutzes schlagen Deutschland und Frankreich die Einrichtung eines europäischen elektronischen Systems zur Einreisegenehmigung für Staatsangehörige aus Drittstaaten ohne Visumspflicht (ESTA) vor. Angesichts der Dringlichkeit der Flüchtlingskrise schließen beide Staaten nicht aus, „dass wir mit einer Gruppe von Mitgliedsstaaten vorangehen, die unsere Auffassung einer gemeinsamen Verantwortung teilen“, zitiert die F.A.S. aus dem Papier.

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Schottland plant zweites Unabhängigkeit-Referendum

16:18 Uhr >Die schottische Regionalregierung bereitet eine zweite Volksabstimmung über die Unabhängigkeit von Großbritannien vor. Das sagte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon am Samstag nach einem Treffen des Kabinetts in Edinburgh. Es gehe darum, die Interessen Schottlands in der Europäischen Union zu sichern.

Dazu würden eigene Gespräche mit Brüssel aufgenommen. Beim Referendum über einen Austritt Großbritanniens aus der EU hatte der schottische Landesteil ebenso wie Nordirland mehrheitlich gegen einen „Brexit“ gestimmt, im Gegensatz zu England und Wales. 2014 hatten bei der Volksabstimmung 55 für einen Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich gestimmt – ein EU-Austritt war damals aber noch nicht absehbar.

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Eine Million Unterschriften für zweites „Brexit“-Referendum

12:25 Uhr > Nach dem „Brexit“-Referendum hat eine Petition für ein zweites Referendum am Samstagvormittag die Marke von einer Million digitalen Unterschriften erreicht.

Die Petition wurde auf der offiziellen Internetseite des britischen Unterhauses eingereicht und ließ zwischenzeitlich die Server zusammenbrechen. Die Regierung solle eine Regel einführen, wonach eine Mindestwahlbeteiligung von 75 Prozent und eine Zustimmung von mindestens 60 Prozent erforderlich sei, um das Referendum zum Erfolg zu bringen, so die Forderung.

Bereits ab 10.000 Unterstützern antwortet die Regierung in irgendeiner Art und Weise auf eine auf der Seite eingestellte Petition, ab 100.000 Unterstützern prüft das Parlament eine Debatte zu dem Thema.

Autor: dts | Foto: Lakov Kalinin/shutterstock.com