Brüssel | aktualisiert | Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht keine Möglichkeit, einen Austritt Großbritannien aus der Europäischen Union aufzuhalten: „Ich will ganz offen sagen, dass ich keinen Weg sehe, um dies nochmal umzukehren“, sagte Merkel nach einem Gespräch der EU-Staats- und Regierungschefs mit Blick auf das Votum der Briten.

Man müsse nun die Realitäten zur Kenntnis nehmen, für Wunschdenken sei kein Platz. „Das Referendum steht da als Realität“, sagte die Bundeskanzlerin.

Am Mittwoch findet erstmals ein Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs ohne den britischen Premierminister statt. Dabei soll es vor allem um die Zukunft Europas gehen.

Schäuble arbeitet an Reformvorschlägen für Europa

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat Vorschläge für eine Reform der Europäischen Union (EU) und der Eurozone vorbereitet. Das berichtete das „Handelsblatt“ (Mittwochausgabe) unter Berufung auf eine interne Übersicht des Finanzministeriums mit dem Titel „Initiativen nach dem UK-Referendum“. So will das Finanzministerium eine glaubwürdige Einhaltung der Schuldenregeln, etwa des Stabilitäts- und Wachstumspakts, erreichen.

Dazu kann man sich vorstellen, dass ein „Rückweisungsrecht“ für die Haushaltsentwürfe der Euro-Staaten eingeführt wird, wenn diese nicht den EU-Defizitvorgaben entsprechen, schreibt die Zeitung. Zudem könnte es einen Anreiz für Reformen geben. Die Umsetzung der sogenannten länderspezifischen Empfehlungen könne an die EU-Strukturfondsmittel gekoppelt werden, heißt es.

Nach der Übersicht aus Schäubles Haus könnte die EU-Kommission zudem ihre Rollen aufteilen: Da sie zuletzt politischer agierte, könnte die Aufgabe als „Hüterin der Verträge“ abgetrennt werden, berichtet das „Handelsblatt“. Das würde bedeuten, dass die Überwachung der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten durch eine unabhängige Behörde erfolgt. Auch die Europäische Zentralbank (EZB) sollte nach den Vorstellungen ihre Aufgaben irgendwann reduzieren.

Die europäische Bankenaufsicht könnte wieder von der Notenbank abgetrennt werden, lautet ein Vorschlag. Der Finanzminister hatte wiederholt kritisiert, dass es innerhalb der Zentralbank Interessenkonflikte gebe. Für den Euro-Rettungsfonds ESM kann sich Schäuble hingegen eine stärkere Rolle vorstellen.

Zudem sollten Hilfen des ESM mit einer Schuldenrestrukturierung des betroffenen Landes verbunden werden, lautet ein weiterer Punkt. Noch will Schäuble mit den Plänen aber keinen öffentlichen Vorstoß unternehmen. Angesichts der vielen Vorschläge für eine stärkere Vergemeinschaftung der Währungsunion wolle man etwas Ruhe in die Debatte bringen, heißt es laut „Handelsblatt“ im Finanzministerium. Derzeit kommen aus Italien und Frankreich Rufe nach einem gemeinsamen Budget der Eurozone, was in Deutschland skeptisch gesehen wird. An diesen Diskussionen könne der EU-Bürger verzweifeln, heißt es in Regierungskreisen.

Deutsche-Bank-Chefvolkswirt mahnt konstruktive Brexit-Gespräche an

David Folkerts-Landau, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, spricht sich nach dem Brexit-Referendum für möglichst einvernehmliche Gespräche zwischen der EU und Großbritannien aus: „Ich plädiere für konstruktive Verhandlungen, die eine positive Botschaft senden – an die Märkte, an den Rest der EU und die Welt. Nun wird sich zeigen, ob Europa die Größe hat, um Streitigkeiten mustergültig zu lösen“, sagte er im Gespräch mit dem „Handelsblatt“ (Mittwochsausgabe). Natürlich werde Großbritannien nicht umhin kommen, gewisse Einschränkungen beim Binnenmarkt hinzunehmen.

Aber es wäre falsch, jetzt ein Exempel zu statuieren und Großbritannien den Austritt aus der Staatengemeinschaft möglichst schwer zu machen, so Folkerts-Landau. „Von konstruktiven Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien profitiert auch die europäische Wirtschaft“, betonte er. „Letztlich geht es doch darum: Europa ist eine ungeheure politische und wirtschaftliche Errungenschaft, von der die Mitgliedstaaten enorm profitieren können. Wir sollten daran arbeiten, die EU wieder attraktiver zu machen – statt darüber nachzudenken, wie wir diejenigen exkommunizieren, die daran zweifeln.“ Insgesamt gibt sich der Deutsche-Bank-Chefvolkswirt eher optimistisch, was die Brexit-Folgen für Großbritannien angeht. Es könne zwar Anfang nächsten Jahres zu einer Rezession auf der Insel kommen.

Doch das dürfte „nur von kurzer Dauer sein, denn die britische Wirtschaft ist im Großen und Ganzen in einer guten Verfassung.“ Zudem dürften die Exportunternehmen von dem tiefen Fall der britischen Währung profitieren. Für die Eurozone ist er dagegen nicht gar so zuversichtlich: „Die Eurozone ist in einer heiklen Situation. Die Wirtschaft wächst zwar, aber das Wachstum ist sehr fragil“, sagte Folkerts-Landau. „Das letzte, was die Eurozone braucht, ist neue Unsicherheit durch den Brexit-Schock. Schon jetzt hängt die Eurozone am Tropf einer Zentralbank, deren Instrumente weitestgehend ausgeschöpft sind. Deshalb könnte die Eurozone letztlich stärker unter einem Brexit leiden als Großbritannien.“

IMK: Brexit kostet deutsche Wirtschaft 2017 halben Prozentpunkt Wachstum

Der Brexit kostet die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr laut einer Prognose des Instituts für Makroökonomie und Wirtschaftsforschung (IMK) nur wenig Wachstum: 2017 hingegen werde das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) um einen halben Prozentpunkt weniger zunehmen als es ohne das britische Votum für einen EU-Austritt der Fall wäre, teilte das IMK am Mittwoch mit. Demnach wächst das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2016 um 1,6 Prozent und 2017 um 1,3 Prozent. Gegenüber seiner Vorhersage vom April erhöht das IMK die Wachstumsprognose für 2016 minimal um 0,1 Prozentpunkte und reduziert sie für 2017 um 0,2 Prozentpunkte.

Ohne Brexit-Votum hätte das Institut die Vorhersage für 2016 um 0,2 und für das kommende Jahr um 0,3 Prozentpunkte erhöht. Durch die aktuelle politische Entwicklung erhalte der moderate Aufschwung der deutschen Wirtschaft einen empfindlichen Dämpfer, der sich auch auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar mache, so das IMK: Trotz Zuwanderung werde die Zahl der Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt 2016 noch einmal leicht um 60.000 Personen sinken, 2017 werde sie jedoch bei weiter steigender Beschäftigung wegen des wachsenden Arbeitsangebots und der wirtschaftlichen Abkühlung um rund 290.000 Personen zunehmen und dann im Jahresdurchschnitt wieder knapp über drei Millionen liegen. „Die kurzfristigen Auswirkungen des Brexit sind in Deutschland nicht katastrophal, aber doch schmerzlich genug“, sagte Gustav A. Horn, der wissenschaftliche Direktor des IMK. „Die deutlich gewachsene Unsicherheit trifft uns an einem ganz empfindlichen Punkt: Gerade sah es so aus als ob die Unternehmen ihre hartnäckige Zurückhaltung bei den Investitionen langsam aufgeben würden. Das dürfte sich jetzt erledigt haben.“ Für 2017 prognostizieren die Ökonomen, dass die Ausrüstungsinvestitionen nur noch um 0,8 Prozent zulegen, nach bereits mäßigen 4 Prozent in diesem Jahr. „Außerdem bleibt ein relevantes Risiko, dass sich die Turbulenzen an den Finanzmärkten nicht in nächster Zeit beruhigen, sondern sich bis 2018 fortsetzen. Dann könnte das deutsche Wachstum im kommenden Jahr sogar knapp unter ein Prozent rutschen“, erklärte Horn.

Autor: dts