Berlin | Für den früheren deutschen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) war der 30. September 1989 der schönste Tag seiner Laufbahn. An diesem Tag hatte der Minister rund 4.500 DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft der Bundesrepublik die Botschaft überbracht, dass ihre Ausreise in den Westen bewilligt worden sei. Im Interview mit „Bild“ (Dienstag) sagte Genscher: „Es ist der glücklichste Tag meiner gesamten politischen Arbeit. Auch ich habe ja viele Jahre vorher die DDR verlassen. Ich wusste, wie sich die Menschen fühlen, was es heißt, Freunde und Verwandte zurückzulassen. Das hat mich schon sehr aufgewühlt.“

Für seine Ansprache auf dem Balkon der Botschaft mit dem Satz: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise“ habe er keinen besonderen Plan gehabt, sagte Genscher: „Auf dem Flug nach Prag habe ich überlegt, was ich sagen soll. Und obwohl ich nun schon länger in der Politik war, fiel mir nichts ein. Das ist eine Rede, die man nicht schreiben kann. Ich habe mich dann darauf verlassen, dass ich aus der Situation heraus die richtigen Worte finden würde. Als ich dann auf dem Balkon stand, war es dunkel, das Licht der Kamera blendete mich, sodass ich gar nichts mehr sah. Ich hörte nur, dass da draußen die Menschen waren und habe in die Finsternis hinein diesen Satz gesagt.“

Allerdings hätten ihn die Bedingungen, unter denen die Flüchtlinge in der Botschaft lebten, schockiert, sagte der Minister: „Man hatte mich informiert, aber so, wie es dann tatsächlich war, hatte ich es mir nicht vorgestellt. Als ich durch die Tür des Eingangstores kam, standen da schon Betten. Die Leute schliefen in der Einfahrt. Drinnen musste ich über etliche Menschen hinweg steigen. Viele haben mich gar nicht erkannt.“

Autor: dts