Köln | „Guten Morgen #Neuland“ twittert sich gerade die netzaffine Welt zu und blödelt sich weiter über die Aussage von Bundeskanzlerin Merkel: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ in Hashtag und Photoshop-Montage. Jens Seipenbusch, der Bundestagskandidat der NRW Piraten, wirft der Kanzlerin vor Deutschland in die digitale Mittelmäßigkeit zurückgeworfen zu haben und nimmt so die politische Dimension der Aussage ins Visier. Die mal mehr, mal weniger witzigen Twitterer blenden die politische Dimension des Themas Netzpolitik gerade in Zeiten des Bundestagswahlkampfes aus und lassen sich vor den politischen Karren spannen. Eine ernsthafte Diskussion über das Netz und Wahrnehmung seiner rechts-, wirtschaftlichen und kulturpolitischen Dimension ist lange überfällig.

Jens Seipenbusch, Bundestagskandidat der NRW Piraten schreibt: „Die Bundeskanzlerin gesteht hier, mit bemerkenswerter Offenheit, das politische Versagen mehrerer Bundesregierungen ein. Gerade die Partei von Frau Merkel hat das Internet und den damit, unweigerlich einhergehenden gesellschaftlichen Wandel, immer als Bedrohung empfunden und behandelt. Ihre rückwärtsgewandte Politik hat Deutschland im internationalen Vergleich in die digitale Mittelmäßigkeit zurückgeworfen.“

Weit mehr als 70 Prozent der Deutschen nutzt das Internet privat und im beruflichen Umfeld. Allen denen, die jetzt wieder sagen, aber da gäbe es eine Gruppe der Netzverweigerer, sei gesagt, dass sie diese mit der Bevölkerungsstatistik vergleichen müssen. Denn ich muss die prozentualen Anteile von Babys, Kindern, Senioren und Seniorinnen vernünftig rechnen. Und selbst diese sind indirekt mit dem Netz verbunden, denn über das Netz wird ihr Pflegedienst koordiniert, um nur ein Beispiel zu nennen. In vielen Bereichen würde die Wirtschaft ohne das Netz zum Stillstand kommen, etwa in er Logistik, die Energiewende wäre, denkt man an Smart Grid, Smart Metering ohne das Netz nicht denkbar, um auch hier nur einige Beispiele zu nennen. Wer jetzt glaubt, dass dies eine Bundeskanzlerin nicht weiß, der ist naiv oder will eben nur blödeln.

Der Begriff Neuland ist politisch praktisch. Die älteren Wähler der CDU, das sind nicht Wenige, werden diesen Begriff begeistert aufnehmen. Die, die das Netz nutzen und kein Interesse oder Zeit haben, hinter die Kulissen zu sehen, werden eingelullt. Auf der einen Seite entsteht so der Eindruck, vor allem vor dem Hintergrund der „Prism“-Debatte, die für den bundesdeutschen Wahlkampf zur Unzeit kommt, als stecke in Deutschland noch alles in den Kinderschuhen, was mitnichten der Fall ist und die Kanzlerin werde sich jetzt des Problems annehmen. Wer glaubt, dass Sicherheitsbehörden in Deutschland das Netz und seine Möglichkeiten nicht seit Jahren kennen und nutzen, glaubt, aber setzt sich nicht mit der Realität auseinander. Anstatt zu blödeln, wäre es angebracht in diesem Kontext anzufragen, wie Bürgerrechte auch im Netz erhalten bleiben und gesichert werden, beziehungsweise wurden. Alle etablierten Parteien können, weniger als 100 Tage vor der Wahl hier keine Debatte gebrauchen.

In der Netzdebatte ist der Begriff „Neuland“ auch hilfreich, lenkt er doch ab von der Frage, was hat die Bundesregierung, zuvor die große Koalition und davor die rot-grüne getan, um eine Netzinfrastruktur zu schaffen, auch im europäischen Kontext, die es erlaubt, europäische Grundrechtsstandards im Netz umzusetzen und Europa unabhängig von anderen Staaten zu machen. Wo sind die europäischen Serverfarmen, die eine Unabhängigkeit im rechtsstaatlichen und wirtschaftlichen Handeln garantieren? Haben Sie sich mal die Frage gestellt, was passieren würde, wenn morgen das Netz für zwei Wochen nicht funktionieren würde. Ok, man könnte nicht über den #Neuland blödeln. Glauben Sie ihr Joghurt stünde im Supermarkt, sie könnten telefonieren und sie würden ihr Carsharing Auto problemlos finden?

Zu suggerieren das Netz sei Neuland, lenkt ab von vielen dringenden Fragen und davor, dass sich die etablierten Parteien, des Netzes bedienen, es aber nie wirklich ernst genommen haben, oder anders gefragt wie viel profilierte Netzpolitiker bei CDU, SPD, Grünen oder FDP kennen Sie? Neuland ist auch prima, wenn man Versäumtes nachholen will, wie etwa das Abstecken von Claims zur Monetarisierung des Netzes. Denken Sie an die Debatte um die freie und für alle gleich schnelle Zugänglichkeit des Netzes? Fangen wir endlich an die Wahrheit über das Netz zu sagen und zu erfragen, es in seiner Dimension richtig einzuordnen und die Rechts-, Wirtschafts- und Kulturpolitischen Fragen ernsthaft zu diskutieren, zu stellen und gesellschaftspolitisch richtigen Handlungsrahmen festzulegen, anstatt zu blödeln und zu polarisieren mit Fragen wie „Ich lese meine Zeitung am Frühstückstisch lieber auf Papier“ und dabei auszublenden wie Produktion und Logistik das Papier auf meinen Frühstückstisch bringen. 

Autor: Andi Goral