Berlin | Die US-Regierung setzt Europa bei den Verhandlungen über das transatlantische Handelsabkommen TTIP offenbar deutlich stärker und weiter reichend unter Druck als bisher bekannt. Das geht aus Abschriften geheimer Verhandlungsdokumente hervor, über die „Süddeutsche Zeitung“, WDR und NDR berichten. Das Material von insgesamt 240 Seiten habe Greenpeace zur Verfügung gestellt, es wird an diesem Montag veröffentlicht.

Demnach droht Washington damit, Exporterleichterungen für die europäische Autoindustrie zu blockieren, um im Gegenzug zu erreichen, dass die EU mehr US-Agrarprodukte abnimmt. Gleichzeitig attackiere die US-Regierung das grundlegende Vorsorgeprinzip beim EU-Verbraucherschutz, der 500 Millionen Europäer derzeit vor Gentechnik und Hormonfleisch in Nahrungsmitteln bewahrt. Die Dokumente offenbaren den drei Medien zufolge zudem, dass sich die USA dem dringenden europäischen Wunsch verweigern, die umstrittenen privaten Schiedsgerichte für Konzernklagen durch ein öffentliches Modell zu ersetzen.

Sie hätten stattdessen einen eigenen Vorschlag gemacht, der bisher unbekannt war. Zudem verweigere Washington gezielt Exporterleichterungen für die europäische Autoindustrie. In einem der vertraulichen Dokumente ist SZ, NDR und WDR zufolge festgehalten, die US-Regierung „beeilte sich klarzumachen, dass Fortschritt bei Autoteilen nur möglich wäre, wenn die EU sich bei Zöllen auf Agrarprodukte bewegt“.

Den USA gehe es aber nicht nur generell um mehr Agrarexporte. Sie zielten auch auf die gentechnisch veränderten Lebensmittel, die in Europa weitgehend verboten sind. Bisher hatte es häufig – sowohl vonseiten der USA als auch aus Kreisen der EU – geheißen, Washington respektiere hier die Bedenken der Europäer.

„Es ist sehr interessant zu sehen, was die USA fordern“, sagte Klaus Müller, Vorstand des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, zu den Dokumenten. „Es bestätigen sich in den Texten bisher so ziemlich alle unsere Befürchtungen bezogen auf das, was die US-Amerikaner bei TTIP in Bezug auf den Lebensmittelmarkt erreichen wollen.“ So wollen die Vereinigten Staaten Produktverbote zum Schutz der menschlichen Gesundheit nur zulassen, wenn diese wissenschaftlich belegt seien, heißt es in dem Bericht weiter. Europa dagegen verbietet Produkte wie hormonbehandeltes Fleisch oder Genfood häufig schon vorsorglich, bei Hinweisen auf Risiken. In den USA kommt es dagegen nicht selten erst zu Verboten, wenn Menschen zu Schaden gekommen sind. Aus den Verhandlungstexten lasse sich ablesen, wie verhärtet die Fronten sind, berichten die drei Medien weiter: So forderten die USA beim Verbraucherschutz unter anderem, die EU solle vor einem Verbot künftig grundsätzlich „andere Möglichkeiten bewerten“, also etwa ohne ein Gesetz auskommen. Außerdem solle sie öffentlich darlegen, „ob Alternativen (zur geplanten Regulierung) den Handel deutlich weniger hemmen“.

Die EU kontert, sie entscheide selbst, ob sie strittige Lebensmittel aus den USA über die Grenze lasse. Die endgültige Entscheidung, ob „der Schutz der Gesundheit gewährleistet ist, liegt allein bei der importierenden Seite“. Ein anderer großer Streitpunkt ist die Kooperation bei der Gesetzgebung. Zuletzt hatten EU und USA den Eindruck erweckt, sich in Regulierungsfragen weitgehend einig zu sein. Die Dokumente legen laut SZ, NDR und WDR etwas anderes nahe: Während die Europäische Union in den Verhandlungstexten ihr Recht betont, Gesetze selbst zu bestimmen, will die US-Regierung dem europäischen Gesetzgeber bei Eingriffen in die Wirtschaft ein enges Korsett anlegen. Das lasse sich aus mehreren Vorschlägen ablesen. So solle die EU Verfahren einführen, um „die Notwendigkeit für eine Verordnung“ und „Kosten und Nutzen von Alternativen“ zu erwägen.

„Falls sich die Amerikaner durchsetzen, würde das europäische Gesetzgebung in Umwelt- und Verbraucherfragen erheblich erschweren“, urteilt Markus Krajewski, Professor für Öffentliches Recht in Erlangen, über die bisher unbekannten US-Vorschläge. Seit Beginn der Gespräche vor knapp drei Jahren ist die Öffentlichkeit vor allem auf Vermutungen angewiesen, worüber beide Seiten wirklich reden. Auch deshalb protestieren inzwischen Millionen Menschen gegen TTIP. Während die EU ihre Vorschläge veröffentlicht, beharren die USA auf Geheimhaltung ihrer Positionen. Washington will sich so einen großen taktischen Spielraum erhalten. Mehrere mit den Verhandlungen vertraute Personen bestätigten, dass es sich bei den nun enthüllten Dokumenten um aktuelle Papiere handelt. Greenpeace ist nach eigenen Angaben im Besitz der Originale.

Autor: Andi Goral