Köln | Volker Rath ist Vorsitzender von und Projektmanager für Cap Anamur, derzeit in Sidon, im Südlibanon. Er leitet dort als einziger deutscher Mitarbeiter ein Projekt, das eine mobile Klinik und eine Physiotherapie-Praxis für syrische Flüchtlingskinder mit Behinderungen umfasst. Rath gehört zu den derzeit erfahrensten Mitarbeitern der Hilfsorganisation. Seit fast 20 Jahren arbeitet er für Cap Anamur, er hat in mehr als einem Dutzend Ländern Projekte (beg)leitet. Wenn Cap Anamur Hinweisen zu humanitären Krisengebieten nachgeht, ist häufig er es, der als erster hinfährt und erkundet, ob und wie die NGO helfen kann. Welche Erfahrungen hat Rath in seinen außergewöhnlichen – mitunter riskanten – Einsätzen gesammelt? Was motiviert ihn auf gewohnten Komfort zu verzichten? Welche Beobachtungen macht er aktuell im Libanon? Das Gespräch führte Marlene Nunnendorf

Es verbindet Sie eine lange Geschichte mit Cap Anamur. Ihre Familie gehörte zu den ersten, die 1979 eine Patenschaft mit einer vietnamesischen Flüchtlingsfamilie aufgenommen haben. Wie hat Sie das damals bewegt?

Volker Rath: Als meine Eltern damit kamen, war ich schon ein bisschen stolz. Es war etwas ganz Besonderes zu der Zeit. Wir wohnten damals in so einer ganz kleinen Straße, wo jeder jeden kannte und wo jeder über jeden alles wusste. Da war die Entscheidung, eine Patenschaft mit einer Familie von den sogenannten „Boatpeople“ einzugehen, herausstechend. Da hat man auch Respekt bekommen, das war zu der Zeit durchaus noch so. Heutzutage wäre das wahrscheinlich anders. Aber damals war es eben so, dass meinen Eltern durchaus Respekt entgegengebracht wurde.

Sie haben einmal gesagt, dass diese Patenschaft ihr Leben verändert hat. Inwiefern war das so?

Volker Rath: Ja durchaus. Es war für mich das erste Mal in eine Berührung mit einer komplett anderen Kultur zu gelangen. Diese Höflichkeit, das Austauschen von Geschenken, das Essen… Ich bin ja in einer Zeit groß geworden, als es in Deutschland noch keine Oliven gab…Dann gab es dieses vietnamesische Essen, das ich total lecker fand. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir eingeladen wurden und die vietnamesische Familie für uns gekocht hat. das waren schon Erlebnisse. Ich habe bis heute Kontakt mit der Familie, so ein bis zweimal im Jahr. Meine Mutter, die leider im letzten Jahr verstorben ist, hatte regelmäßigen Kontakt mit der Familie und auch mit ihren vietnamesischen Enkelkindern. Die haben auch immer „Oma“ gesagt zu meiner Mutter. Sie war die deutsche Oma.

Später haben Sie studiert und sind danach als Logistiker für Rockbands um die Welt getourt…

Volker Rath: Ja so ungefähr. Das waren zwei amerikanische Firmen im Eventbereich. Da bin ich ein paar Mal um die Welt getourt.

Was war dann der Auslöser für Sie, sich bei Cap Anamur zu bewerben?

Volker Rath: Ich habe mit 16 oder mit 18 schon gesagt, dass ich das irgendwann einmal machen möchte. Es war schon damals mein Wunsch, für Cap Anamur zu arbeiten. Ich war auch schon immer politisch interessiert, durch meinen Vater. Er war SPD-Mitglied. Ich kann mich noch erinnern, als ich auf den Schultern meines Vaters saß, als Willy Brandt nach Wilhelmshaven gekommen ist. „Wir wollen Willy!“, riefen die Leute damals. Ich habe seit der Patenschaft meiner Eltern zu der vietnamesischen Familie auch immer die Arbeit von Cap Anamur beobachtet. Nach fast 25 Jahren Rock’n‘Roll, als dann so ein junger Techniker sagte: „dieser nette ältere Herr mit den weißen Haaren hat mir sehr geholfen!“ da habe ich gewusst, dass ich jetzt zu alt für den Rock’n’Roll bin. Das war der Zeitpunkt, als ich mich bei Cap Anamur beworben habe.

Es war dann gewissermaßen eine „Feuertaufe“ für Sie. Nachdem Sie mit Rockbands um die Welt getourt sind und 5 Sterne Hotels gewohnt waren, war Ihr erster Einsatz im Jahr 2002 für Cap Anamur in Afghanistan. Was ist Ihnen da besonders in Erinnerung geblieben?

Volker Rath: Die Reise dorthin – die war schon abenteuerlich. Ich musste in Dubai umsteigen und von dort aus ging es weiter mit Afghan Airways… Die hatten irgendwelche großen Flugzeuge von irgendeiner großen Company geschenkt bekommen. Der Flug war schon wenig vertrauenserweckend. Es war alles uralt und richtig vergilbt. Es gab auch keine Platznummer, sondern man musste sich den Platz erkämpfen. Das ist ja oft in diesen Ländern so, wegen der Trennung zwischen Frauen und Männern. Dann bin ich mit so einem kleinen Flugzeug von Kabul nach Kundus geflogen und in Kundus sollte mich jemand abholen. Sie müssen sich den Flughafen in Kundus vorstellen. Der liegt irgendwo im nirgendwo und da gab es dann drei kiffende Soldaten mit so glasigen Augen – und es wurde immer später und die Augen der Soldaten immer glasiger, aber meine Kollegen kamen nicht. Da habe ich dann doch schon so ein bisschen Bedenken gehabt und über einen Plan B nachgedacht. Aber nach Einbruch der Dunkelheit kamen sie doch und dann ging es mit einem russischen Jeep nochmal sieben Stunden weiter über Stock und Stein. Ach ja, mein Gepäck war natürlich nicht angekommen…

Haben Sie Ihr Gepäck je wiedergesehen?

Volker Rath: Ja, sechs Monate später. Da durfte ich das dann in einem Container in Kabul suchen. In der Zwischenzeit hatte ich mir Kleidung von Kollegen geliehen und einfach afghanische Kleidung getragen.

Was haben Sie in Afghanistan gemacht?

Volker Rath: Vor allem haben wir Schulen gebaut. Wir hatten auch eine Ambulanz, aber in erster Linie haben wir dort Schulen gebaut. Wir hatten drei Standorte, haben über 50 Schulen gebaut und an zwölf Schulen habe ich mitgebaut. Es gab damals auch immer viele Diskussionen, weil wir die Mädchenschulen mit durchgesetzt haben. Das wollten die Dörfer meistens nicht, aber wir haben dann die Mädchenschulen zur Bedingung für die Jungenschulen gemacht. Wir haben gesagt: „Entweder es gibt auch eine Mädchenschule oder es gibt gar keine Schule.“ Und da sind dann eigentlich auch immer alle darauf eingegangen. Leider ist jetzt gerade in der Gegend ein großer Umbruch zu verzeichnen. Ich habe vor einigen Jahren einen Übersetzer dort gefragt, warum seine Frau immer noch die Burka trage und er antwortete: „Volker, wir haben hier so viele Umbrüche miterlebt – die Russen, die Amerikaner, die Taliban – wenn wir uns jetzt öffnen und dann passiert wieder etwas, werden wir darunter leiden. Deswegen können wir es uns nicht erlauben.“ Das Problem an der ganzen Geschichte ist, dass er recht gehabt hat. Es ist genauso gekommen.

In welchen Ländern waren sie für Cap Anamur?

Afghanistan, in Indonesien in Banda Aceh, das war der Tsunami von 2004, an der Elfenbeinküste, in Somalia, in Uganda, zwischendurch Kongo, Philippinen, zentralafrikanische Republik, Philippinen und jetzt im Libanon ….

Sie bewegen sich für Cap Anamur aus der Komfortzone heraus in Gegenden, die nicht immer sicher sind. Ich denke da zum Beispiel an Somalia. Haben Sie da auch Angst gehabt?

Volker Rath: Ja, schon. Somalia war aber auch das – ich würde sagen – „Highlight an Angst“. Somalia hat mich auch selbst sehr verändert. Dieses ständige Wachsam-Sein. Klaus Störtebecker hat einmal gesagt. „Meile um Meile gewach sein, Tag für Tag“. Das geht dann so weit, dass Sie irgendwann nur noch in so einem Alarmmodus schlafen. Es ging über einen sehr langen Zeitraum, dass ich immer in diesem Alarmmodus geschlafen habe. Jedes Geräusch macht einen wach. Silvester in Deutschland mit den Böllern – das geht gar nicht: ich bin ich seitdem wie der Hund. Die Drohnen, die fliegen, die man nicht ankommen hört, die man nur weg fliegen hört. Der Sarkasmus, den wir dann irgendwann ausgebildet haben, war: „Der Schuss, der Dich tötet, den hörst Du nicht!“. Wir waren ja auch das einzige internationale Team, das da vor Ort war und wir haben auch massive Drohungen erhalten. Wir konnten dort nur unter größten Sicherheitsvorkehrungen mit bewaffneter Security leben. Ich habe noch nie irgendwo so große Sicherheitsvorkehrungen treffen müssen wie in Mogadischu.

Wie gehen Sie mit Ihrer Angst um?

Volker Rath: Ich habe irgendwie die Gabe bekommen zu unterscheiden: „jetzt bis dahin und nicht weiter“. Und weil mich meine Erfahrungen im Leben damit immer an die rote Linie gebracht haben, aber nicht weiter, bin ich da im Prinzip ganz gut mitgefahren. Da ist schon Respekt vor der Situation, ganz klar, auch das Bewusstsein über die Gefahr. Auch solche Sekunden Ängste, wo man genau an dieser Grenze steht und sich fragt: „Machst Du jetzt diesen Schritt nach vorne oder machst du ihn nicht?“ Dieses Unwohlsein vor Adrenalin, das merke ich im Bauch. Das ist mir bis jetzt immer gut gelungen – toi, toi, toi – aber ich habe auch immer gewusst, wann es besser war, mich zurückzuziehen. Man hat ja auch eine personelle Verantwortung für Kollegen, die nicht so erfahren sind. Da muss es ganz klar eine rote Linie geben. Aber diese roten Linien sind nicht klar definiert. Die kann man auch nicht vorher definieren, weil das von Situation zu Situation verschieden ist.

Sie sind es häufig, der für Cap Anamur neue Gegenden erkundet und überblickt, ob und wie Cap Anamur dort tätig werden kann. Wie machen Sie das? Sie wissen, dass da eine Region ist, die Hilfe braucht, aber Sie können ja wohl kaum vorher da anrufen und sagen: „Wir sind morgen da.“ Wie funktioniert das?

Volker Rath: Ja, da gab es natürlich auch prekäre Situationen. Als ich mit unserem Fotografen, Jürgen Escher, 2007 von Goma, im Kongo, an die Grenze von Uganda gefahren bin. Da hatte man uns berichtet, dass es da Flüchtlinge gab. Wir sind dann gefahren und das war schon ein mulmiges Gefühl durch diese gerade beendete Frontlinie zu fahren… Aber es ist nicht immer so extrem. Im Normalfall fährt man einfach hin. Da kann man dann einen Taxifahrer fragen oder einfach Menschen auf der Straße oder im Supermarkt oder an einer Tankstelle oder denjenigen, der gerade da ist und „gute Augen“ hat. Das kennen Sie sicher auch aus dem Leben, dass da auf einmal jemand ist, wo man sich so sekundenhaft anschaut und denkt: „Ja, Mensch, da ist eine Botschaft!“. Das funktioniert ganz gut. Die Challenge bei dieser Sichtung ist eher, dass es für Cap Anamur passt. Es muss ins Budget und in die Zeit passen, dass wir das mit Mitarbeitern liefern können. Ich kann ja kein Projekt vorschlagen, bei dem ich von Anfang an weiß, dass sich da niemand drauf bewirbt.

Wobei die „Chancen“ bei dem Einsatz in Somalia doch groß gewesen wären, dass sich da niemand drauf bewirbt, oder?

Volker Rath: Ja, das haben wir in der Tat wirklich gedacht, wurden aber – Respekt vor den Frauen – eines Besseren belehrt. Wir haben dann Ärztinnen, Krankenschwestern und Hebammen gehabt. Außer mir gab es nur Mitarbeiterinnen, die bereit waren dorthin zu gehen. Von der Teamstimmung und vom Zusammenhalt war das Team in Somalia eins der besten, das ich je betreut habe. Weil wir alle in der gleichen Situation waren: bewacht, eingesperrt, gefährlich, ständig Schüsse… Und das hat das Team zusammengeschweißt.

Was motiviert Sie, in Ihrer Arbeit auf Komfort und Sicherheit nach deutschem Standard zu verzichten, und auch Gefahren in Kauf zu nehmen?

Volker Rath: Das sind die Menschen – und zwar sowohl die Menschen vor Ort als auch die Mitarbeiter. Die Dankbarkeit in den Augen der Menschen oder die Kinder, mit denen wir auch mal spielen. Die geringen Mittel, mit denen man Kinder glücklich machen kann: singen oder Fußball spielen. Also für mich ist das einerseits die Menschlichkeit, aber auch die wunderschönen Gegenden, die ich sehen darf, wie zum Beispiel den Kibu im Osten des Kongos, in meinen Augen eine der schönsten Gegenden dieser Welt. Ich verdiene zwar nicht so viel Geld, aber das ist Teil meines Gehalts. Wenn ich sehe, dass unsere Arbeit Menschen selbstständig macht, macht mich das glücklich.

Jetzt sind Sie gerade im Südlibanon in Sidon. Dort leben Sie mit einem kleinen eigenen Zimmer, das – für Cap-Anamur Verhältnisse, wie Sie sagen – vergleichsweise komfortabel sei. Worin genau besteht die Herausforderung für Sie im Libanon?

Volker Rath: In dem enormen Währungsverfall, dass dadurch fast 80% der Verbrauchsgüter importiert werden müssen. Diese wiederum müssen mit harter Währung bezahlt werden, mit Dollars. Es zählt einfach das Geld, also die Dollars, um ausreichend Ware ins Land zu bringen. Das geht beim Diesel los, geht über Lebensmittel und hört nicht zuletzt bei den Medikamenten auf. Der Medikamenteneinkauf im Libanon in den letzten 12 Monaten ist sehr, sehr schwierig geworden.

Es ist nicht immer leicht an Medikamente zu kommen. Wie gehen Sie damit um?

Volker Rath: Wir haben als Cap Anamur einen großen Vorteil im Gegensatz zu vielen Einheimischen. Wir haben Dollars. Wir kommen mit harter Währung ins Land und da ist eben die Dollarknappheit gibt, sind wir natürlich gern gesehene Kunden. Dennoch gibt es das Dilemma, dass wir nicht den lokalen Apotheken und den lokalen Menschen die Medikamente weg kaufen wollen. Da muss man versuchen auf der einen Seite den Überblick behalten. Auf der anderen Seite besteht unsere normale Klientel überwiegend aus syrischen Flüchtlingen, die am untersten Ende der Gesellschaft stehen. Sie können selbst überhaupt gar nicht darüber nachdenken, in eine Apotheke zu gehen und Medikamente zu kaufen, weil das Geld einfach nicht da ist. Also ist unsere Klientel darauf angewiesen, kostenfreie Medikamente zu bekommen. Wir versuchen da die Waage zu halten. Wir arbeiten mit verschiedenen Apotheken und Großhändlern zusammen. Ich würde sagen das läuft so ab wie bei den sieben Zwergen: dann nehme ich hier von dem Teller und da von der Jacke. Ich versuche das möglichst fair aufzuteilen.

Wie sieht das Team und die Arbeit von Cap Anamur im Libanon aus?

Volker Rath: Wir haben in Sidon ein Zentrum, wo wir eine Physiotherapie für syrische Flüchtlingskinder mit schweren Behinderungen betreiben. Das läuft wie eine Physiotherapie-Praxis, wie man sie sich hier auch vorstellt. Da arbeiten zwei Physiotherapeutinnen, eine Sozialarbeiterin und eine Hygienekraft. Wir haben uns deswegen für diese Gegend entschieden, weil es dort kaum Organisationen gab, die sich um die syrischen Flüchtlinge kümmern. Die Umstände unter denen die Ärmsten der Armen hier Leben, gehen einem schon sehr nahe. Das Leben in einem Flüchtlingslager im Libanon kann man sich in Deutschland kaum vorstellen. Neulich habe ich eine Familie getroffen, die lebte in einem Hühnerstall… Unsere mobile Klinik besteht aus einer Ärztin, einer Krankenschwester und einem Fahrer, der auch als Security ausgebildet ist. Zusätzlich gibt es noch einen Bauingenieur und mich. Die mobile Klinik kümmert sich um ein Flüchtlingscamp, in dem 100-150 Tausend Menschen unter ärmsten Verhältnissen leben.

Welche Auswirkungen hat Covid 19 auf den Libanon und Ihre Arbeit?

Volker Rath: Wir beobachten die Situation. Auch im Libanon steigen die Zahlen täglich. Es gibt bei der Einreise einen verpflichtenden Test. Das Ergebnis sollte eigentlich innerhalb von 24 Stunden vorliegen, bei mir hat es das letzte Mal vier oder fünf Tage gedauert. Ich war solange in Zwangsquarantäne. Es gibt Regeln ähnlich wie in Deutschland. Vieles ist im Libanon von den Regeln her ähnlich, nur, dass diese eher wenig beachtet werden. Abstandsregeln werden nicht wirklich eingehalten. Für uns heißt das dann, dass wir konsequent spätabends einkaufen gehen und wir versuchen Kontakte zu vermeiden, um unsere Patienten zu schützen. In der mobilen Klinik verteilen wir an jeden Patienten und ihre Familien eine Maske, weil die meisten kein Geld für Masken haben. Wir verteilen auch Desinfektionsmittel im Camp. Diese können wir wegen des Währungsvorteils kostengünstig kaufen. Unsere Arbeit ist jetzt einfach ein bisschen langsamer geworden. Vor Corona haben wir beispielsweise immer bis zu vier Kinder gleichzeitig gefahren, jetzt geht immer nur noch eins, weil wir die Autos zwischendurch desinfizieren müssen und auch die Geräte.

Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Arbeit von der libanesischen Bevölkerung geschätzt wird oder sieht sie es eher kritisch, dass Sie syrischen Flüchtlingen helfen?

Volker Rath: Zunächst einmal muss man dem Libanon großen Respekt zollen, weil er im Verhältnis zu seiner Bevölkerung sehr, sehr viele Flüchtlinge aufgenommen hat. Wir hatten aber durchaus Diskussionen, in denen es Kritik gab und relativ reiche Libanesen gefragt haben: „Und was macht Ihr für uns?“ Darauf war unsere Antwort eigentlich immer die gleiche: Wir haben acht Libanesen im Team, wir zahlen libanesisches Benzin, wir kaufen unsere Medikamente im Libanon. Das heißt, wir verschenken ja kein Geld. Wir verschenken hier Ware und Leistung. Wir sorgen hier für acht Arbeitsplätze in einer Krisenzeit, wir sorgen für Umsätze, Benzin Verpflegung und wir zahlen Löhne.

Wie beurteilen Sie die aktuelle politische Lage im Libanon?

Volker Rath: Das libanesische Problem ist ein hausgemachtes. Man kann das vielleicht mit der Weyer Card etwas vergleichen Da wurde über Jahrzehnte die Währung hochgehalten mit „Fake-Buchungen“ und „Fake-Bilanzen“. Es ist ein Problem, dass unheimlich viele Leute auch sehr viel Geld verloren haben und dass dieses Geld jetzt wahrscheinlich auf den Schweizer Konten von irgendwelchen libanesischen Großfamilien liegt. Die Menschen wissen das. Sie waren aus meiner Sicht zu lange ruhig. Wobei diese Clanwirtschaft sich bis in die unteren Schichten fortführt, da geht es dann nicht um Millionen oder auch Tausende, sondern da geht es denn vielleicht um Hunderte. Aber diese Clan- und Familien-Wirtschaft mit diesem relativ komplizierten politischen System zieht sich durch das ganze Land durch. Es ist zu erwarten, dass sich die Lage im Libanon zunächst noch zuspitzen wird und deswegen wird unser Projekt dort auch noch an Bedeutung gewinnen. Daher hoffe ich, dass möglichst viele der gut ausgebildeten Libanesen, die im Ausland wohnen, zurückkommen und beim Aufbau des Landes helfen.

Bei Ihnen haben die Fenster gewackelt, als am 4. August die große Explosion im Hafen von Beirut stattfand. Was haben Sie dann gemacht?

Volker Rath: Ja, ich kannte dieses Wackeln der Fenster aus anderen Projekten und wusste, dass das eine Explosion gewesen sein musste. Ich habe dann im Internet nachgesehen und nach drei Minuten wusste ich es. Wir haben dann Verbandsmaterial und Tetanusinjektionen besorgt und sind dann direkt nach Hamra in die Hafenbucht gefahren und haben mit unserem Partnerkrankenhaus Verletzte behandelt.

Wie groß ist der Drang nach Veränderung der politischen Situation im Libanon in der Bevölkerung?

Volker Rath: Der ist sehr, sehr groß! Man sieht es an den vielen Demonstrationen, die seit dem vergangenen Oktober überwiegend friedlich ablaufen. Gut, da gab es einige Straßensperren mit brennenden Reifen, aber sonst waren sie friedlich. Diese Demonstrationen haben einen sehr breiten Rückhalt in der Bevölkerung und zwar durch alle Religionen hindurch. Die Forderungen, die da ausgedrückt werden, sind, dass man Leute in der Regierung haben will, die etwas können und nicht ausgesucht werden, weil sie einen bestimmten Familiennamen haben.

Welchen Einfluss hat die Hisbollah im Libanon?

Volker Rath: Die Hisbollah hat durchaus einen großen Rückhalt in der libanesischen Bevölkerung, auch im Parlament ist sie mit knapp 50 Prozent vertreten. Man kann also keine politischen Entscheidungen an der Hisbollah vorbei machen. Da kommt natürlich die Frage nach der Effektivität der Gewaltenteilung auf… Wie kann es sein, dass eine Partei eigene Waffen hat? Man spricht ja auch von sehr vielen Waffen. Dann dürfen wir nicht vergessen, dass auch der Erzfeind Israel noch immer in der lokalen Politik mitspielt, so dass man aktuell die Hilfe von Israel ganz klar abgelehnt hat, obwohl die Israelis Hilfe angeboten hatten.

Wie fassen Sie das Besondere an Cap Anamur zusammen, Herr Rath?

Volker Rath: Wir sind klein genug, um anders zu sein. Das ermöglicht es uns, schnell und unbürokratisch zu helfen. Wir halten die Kosten möglichst gering. Wir kaufen beispielsweise möglichst einfache gebrauchte Autos und die Mitarbeiter wohnen in einfachen Unterkünften. Fünf Sterne Hotels und Klimaanlagen gibt es bei uns nicht. Ich erinnere mich an ein Treffen mit einem englischen Donor. Da hat ein deutscher UNHCR-Mitarbeiter zu ihm gesagt: „Mach das mit Cap Anamur – da kriegst Du viel Projekt für wenig Geld!“

Vielen Dank, für das Gespräch.

Autor: Marlene Nunnendorf