„Der Ort, an dem die Wahrheit erforscht wird“

Der Start für die Rechtsmedizin in Köln war im vergangenen Jahrhundert ziemlich holprig. Warum war das so?
Prof. Markus Rothschild: Ich vermute, dass das auch ein wenig der rheinischen Eigenart geschuldet war. Man hat die Aufgaben der Rechtsmedizin irgendwie mit Not- und Zwischenlösungen bewältigt. Erst als das nicht mehr so weitergehen konnte, kam vor 50 Jahren das eigene Institutsgebäude am Melatenfriedhof. Da hatten andere Städte in Deutschland schon seit 60 oder 70 Jahren ein eigenes Institut für die Rechtsmedizin. Dass wir das heutige Institut in Köln haben, ist den Nationalsozialisten zu verdanken, was einen bitteren Beigeschmack mit sich bringt. Damals wurde die Rechtsmedizin als unabhängiger Gutachter nie gerne gesehen. So hat man diese Disziplin kaltgestellt und sie dem städtischen Gesundheitsamt untergeordnet, wie das überall in Deutschland so der Fall war. Aus dieser Abteilung des Gesundheitsamtes ist dann nach dem Krieg die Rechtsmedizin als echte Institution entstanden.

Wie sind Sie selbst zur Rechtsmedizin gekommen?

Rothschild: Mich hat dieses Fach einfach fasziniert. Dabei war ich mir zu Beginn meines Medizinstudiums gar nicht klar darüber, dass die Rechtsmedizin ein eigenes Fach ist. Ich wollte damals zunächst ganz klassisch ein heilend tätiger Arzt werden. Dann kam sehr spät im Studium, im neunten Semester, die Rechtsmedizin und ich war sofort schwer begeistert. Das war das erste Lehrbuch, das ich noch abends im Bett gelesen habe, weil es so spannend war. Ich habe ein gewisses Faible für Naturwissenschaften wie Chemie und Physik und fand die Mischung aus Medizin und diesen Fächern einfach großartig. Am Ende meines Studiums kam dann noch das Glück hinzu. Es gab eine freie Assistenzarztstelle im Institut der FU in Berlin. Die habe ich 48 Stunden nach dem bestandenen Staatsexamen direkt angetreten.

Was macht den Reiz der Rechtsmedizin für Sie konkret aus?

Rothschild: Die Rechtsmedizin ist ein Querschnittsfach, bei dem es Berührungspunkte mit sehr vielen Disziplinen gibt. Da ist zum Beispiel Kinderheilkunde, wenn es um die Beurteilung von Kindesmisshandlung und plötzlichem Kindstod geht, oder die Gynäkologie und Urologie, wo Expertenwissen zu Sexualdelikten vermittelt wird. Das sind nur drei der zahlreichen Überlappungen, die den Rechtsmediziner zum Generalisten machen. Es gibt drei große Bereiche des Fachs. Aus den Krimis kennt man vor allem die forensische Morphologie und Traumatologie. Bei der forensischen Toxikologie geht es um Gifte oder Alkohol. Hier kommen Fächer wie Pharmazie oder Chemie ins Spiel. Bei der forensischen Molekulargenetik dreht sich alles um den genetischen Fingerabdruck oder auch um den Nachweis einer Vaterschaft. Hier hilft uns die Biologie weiter. Dazu kommen Berührungspunkte mit rechtlichen Fragen. Das ist wieder eine ganz andere Welt und eine ganz andere Art zu denken. Diese Vielfalt macht unseren Beruf derart reizvoll.

Die Rechtsmedizin haben Sie als „Ort, an dem die Wahrheit erforscht wird“, bezeichnet.

Rothschild: In Deutschland ist die Rechtsmedizin mit ihren Instituten an den Universitätskliniken implementiert. So sieht man sich den Hauptaufgaben Lehre und Forschung verpflichtet. Dazu nehmen wir noch zusätzlich Aufgaben im öffentlichen Gesundheitswesen wahr und bieten den Strafverfolgungsbehörden wie Polizei, Staatsanwaltschaften und Strafgerichten aber auch zivilen Gerichten und Privatpersonen forensische Dienstleistungen an, indem wir rechtsmedizinische Fragestellungen lösen. Das bedeutet, dass wir Studierenden anhand von authentischen Fällen unterrichten. Und aus Fällen, die wir mit den zur Verfügung stehenden Methoden nicht auf Anhieb lösen können, entwickeln sich Ausgangspunkte für Dissertationen und damit zur Forschung. Gutachten, die wir erstellen, benötigen wiederum ein wissenschaftliches Fundament. So dreht sich alles in einem positiven Sinne im Kreis.

Wie geht ein Rechtsmediziner mit dem Tod um, dem er fast täglich begegnet?

Rothschild: Natürlich ist auch der Rechtsmediziner ein Mensch, den Fälle und die dazugehörenden Umstände berühren. Aber man lernt damit professionell umzugehen und man lernt die Dinge, denen man begegnet, zu versachlichen. Wer ständig mit leidet oder trauert, kann kein guter Gutachter sein, da er die Objektivität und die Neutralität verliert. In der Regel funktioniert das aber recht gut. Es gibt aber auch immer wieder junge Assistenzärzte, denen das noch nicht so optimal gelingt. Mit denen führen wir dann intensive Gespräche, nach denen sie sich entscheiden müssen, ob ihr Weg in der Rechtsmedizin weitergeht oder nicht.

Gibt es Fälle, an die Sie sich noch besonders erinnern oder die Sie besonders beschäftigt haben?

Rothschild: Es gibt natürlich immer Fälle, die besonders anspruchsvoll oder auch frustrierend waren, weil man mit den eigenen Methoden nicht weiter gekommen ist, wie man sich das erhofft hat. Aber den ganz besonderen Fall gibt es bei mir nicht. Was uns noch lange beschäftigt hat, war ein Auftrag der Bundesanwaltschaft. Dabei ging es um einen syrischen Militärfotografen, der Tote in Damaskus und der Region fotografiert hat. Immer wieder gab es auf den Bildern Spuren von Folter. Er ist schließlich aus Syrien nach Europa geflohen und die Bilder wurden außer Landes geschmuggelt. Die Bundesanwaltschaft sah ein Land, in dem so viele syrische Flüchtlinge leben, in der moralischen Pflicht, sich diesen Dateien anzunehmen und hat uns beauftragt, die 26.000 Bilder, die etwa 7000 Leichen zeigen, zu sichten und nach den Todesursachen zu forschen. Das war eine Arbeit, die mich und eine Oberärztin zeitlich und geistig sehr beschäftigt hat und die für den Geist und die Seele eine echte Herausforderung war.

Sie waren im Auftrag des UN-Kriegsverbrechertribunals in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo, um dort Massengräber zu untersuchen.

Rothschild: In Den Haag hat man Länder gesucht, in denen es etablierte rechtsmedizinische Systeme gibt und man hat zudem nach Ärzten mit einer speziellen Expertise Ausschau gehalten. Ich war einer von mehreren Ärzten aus verschiedenen Ländern, auf die diese Anforderung zutraf, und so war ich als junger Assistenzarzt zweimal in Bosnien-Herzegowina und einmal im Kosovo. Eine sehr interessante Aufgabe. Doch die pure Masse an Toten erschlägt einen und man muss sich zwischendurch immer wieder erden und relativieren. Zu Beginn hat man den Eindruck, dass es an diesem Ort mehr Tote als Lebende gibt, was natürlich nicht so ist. Und man hat schnell Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg vor Augen. Ich hätte nie gedacht, dass es danach direkt vor der eignen Haustür solche Säuberungsaktionen oder Pogrome geben kann. Das berührt einen vor allem als Europäer. Hier hilft es, sich auf das zu besinnen, wofür man ausgebildet und wofür man angefordert worden ist. Auch hier geht es um eine professionelle Versachlichung der Dinge.

Schauen Sie sich als Rechtsmediziner noch Fernsehkrimis an?

Rothschild: Ja, und das mache ich sehr gerne. Ich schaue regelmäßig den Tatort. Das ist ein spannendes Format, weil es aus allen Bundesländern sowie aus Österreich und der Schweiz kommt. Man muss sich natürlich bewusst machen, dass es hier nicht um eine Dokumentation, sondern um kurzweilige Unterhaltung geht. Vieles ist überzeichnet oder spiegelt die Realität falsch oder nur unvollständig wider. Aber das betrifft auch die Arbeit der Polizei oder der Staatsanwaltschaft. Da ist vieles einfach der Dramaturgie geschuldet. Es gab aber auch schon einen Tatort mit einer rechtsmedizinischen Fragestellung, über die wir am nächsten Morgen noch bei einer Frühbesprechung im Institut diskutiert haben.

Sie waren medizinischer Ratgeber bei der ZDF-Serie „Der letzte Zeuge“.

Rothschild: Diese Serie war ein echter Glücksfall vor allem wegen begnadeter Schauspieler wie Ulrich Mühe. Die meisten kamen aus Ostdeutschland und hatten eine klassische Theaterausbildung absolviert. Das hat der Serie sehr gutgetan. Dazu kam, dass fast alle Drehbücher vom gleichen Autor verfasst wurden. Das brachte den dicken roten Faden für die Serie mit sich. Der Kontakt zum Autor entstand über einen Zufall. Er hatte zuvor noch nie Drehbücher für eine Fernsehserie geschrieben und recherchierte sehr genau. So kam der Kontakt zum Rechtsmedizinischen Institut in Berlin, an dem ich damals gearbeitet habe. Er gab mir die Drehbücher zur Durchsicht und ich habe sie ihm mit vielen Anmerkungen zurückgegeben. Das hat mir damals sehr viel Spaß gemacht.

Sie leben als gebürtiger Berliner in Ihrer Wahlheimat Köln.

Rothschild: Köln macht es den Menschen, die dorthin ziehen leicht. Es ist eine unglaublich gesellige Stadt, in der man nicht lange alleine bleibt. Für mich ist Köln daher eine wunderbare Wahlheimat, in der meine beiden Söhne geboren worden sind. Ich fühle mich hier pudelwohl. Wir haben im Institut ein großartiges Team und eine gute, sehr sympathische Zusammenarbeit. In einem Team mit dieser Grundfröhlichkeit zu arbeiten, macht mir wirklich Spaß.

Autor: Von Stephan Eppinger
Foto: Prof. Markus Rothschild