Köln | Am morgigen Samstag finden am Hans-Bockler-Platz zwischen 12 und 16 Uhr mehrere Lesungen statt. In einer Lesung schildert der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes, Dr. Frank Überall, seine Erinnerungen an jene unheilvollen Tage im Sommer 2016, an denen in der Türkei nicht nur sprichwörtlich das Licht ausging. Lesen Sie bei Report-k.de vorab die bewegenden Erinnerungen des djv-Vorsitzenden.

Ich habe den Geruch noch in der Nase: Leckeres Essen, orientalisch gewürzt, dazu ein gutes Glas Rotwein. Eine leichte Brise weht vom Bosporus auf die Terrasse des Restaurants. Es ist einfach ein wunderschöner Abend in Istanbul, mit liebenswerten Menschen und guten Gesprächen. Beinahe hätte ich Unterhaltungen geschrieben, aber der Begriff passt nicht. Unterhaltsam ist der Abend nur bedingt. Es schwebt eine Schwere über der Runde, die kaum zu verdrängen ist.

Zugetragen hat sich die Situation wenige Stunden vor dem Putschversuch in der Türkei. Als Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands hatten mich türkische Kolleginnen und Kollegen zum Solidaritätsbesuch eingeladen. Ihre Gastfreundschaft war beeindruckend. Ihre Sorgen waren es aber auch. Um es vorweg zu nehmen: Viele, mit denen ich damals zusammen auf der Restaurant-Terrasse mit Blick auf den Bosporus gesessen und gegessen habe, sind heute arbeitslos, oder sie sitzen im Gefängnis.

Nein, ich habe nicht mit Schwerkriminellen der Mafia zusammengesessen, mit Betrügern, Mördern oder Putschisten. Es waren Kolleginnen und Kollegen, die in der Türkei bei Fernsehsendern oder Zeitungen arbeiteten. Die mir von ihren Sorgen und Nöten erzählten. Was ich hörte, ließ meinen berechtigten Ärger über schlechte Gehalts- und Honorarbedingungen, über ignorante Politiker und „Lügenpresse“-Rufe in Deutschland zeitweise vergessen. Das, was die mutigen Medienleute in der Türkei bewegte und bewegt, ist von ganz anderer Qualität, ist viel gefährlicher, ist existenzbedrohend: Journalismus wird als Verbrechen gebrandmarkt. Nicht von durchgeknallten Extremisten, sondern vom Staat. Nicht alleine vom Präsidenten Erdogan, sondern von Justizbehörden landauf, landab.

Bevor ich zu dem Solidaritäts-Besuch nach Istanbul gekommen war, kannte ich die Türkei schon. Als Urlaubsland, aber auch als Medienlandschaft. An den Stränden und in den Städten dieses wundervollen Landes habe ich erholsame Zeiten verbracht, an die ich mich gerne erinnere. Die Menschen waren immer aufgeschlossen, freundlich, weltoffen – ganz gleich, ob im Hotel, im Geschäft, auf dem Dorf oder in einem Restaurant. Und ich durfte mich in einem Projekt der Europäischen Union mit dem Verhältnis zwischen Justiz und Medien beschäftigen. Im Justizministerium in Ankara trafen sich mehrere Tage lang Journalisten und Juristen. Wir haben darüber diskutiert, wie sich der türkische Rechtsstaat weiter entwickeln kann, hin zu europäischen Standards.

Es war eine unvergleichbare Aufbruchstimmung. In vielen Staatsanwaltschaften und an Gerichten wurden zum ersten Mal überhaupt Pressestellen eingerichtet. Für die Staatsdiener war es ungewohnt, rechtliche Entscheidungen erklären zu müssen, vor aller Öffentlichkeit, vor kritisch berichtenden Journalisten. Aber sie haben die Herausforderung freudig angenommen, waren neugierig auf den Austausch mit uns. Ich hätte mir damals nicht träumen lassen, dass die optimistische Aufbruchstimmung schon bald verfliegen sollte. Weg gescheucht von Recep Tayyib Erdogan, dem eine absolut anmutende Machtfülle wichtiger war als die Annäherung an die EU, als das Wohl seiner eigenen Bürgerinnen und Bürger.

Zurück zu meinen Erinnerungen an den schönen Abend im Restaurant in Istanbul. Wir saßen gerade gemütlich zusammen, da fiel der Strom aus. Schnell kamen die Kellner mit Kerzen, stellten sie auf den Tisch und zündeten sie an. Ein Blick in Richtung Bosporus zeigte uns, dass im ganzen Viertel kein elektrisches Licht mehr brannte. „Keine Angst“, sagte mir ein Kollege: „In ein paar Minuten wird der Strom wieder da sein.“ Ich fragte mich, was der fürsorgliche Hinweis sollte. Kaum brannten die Glühbirnen wieder, erfuhr ich mehr: Früher sei es üblich gewesen, dass Stromausfälle nicht Minuten, sondern Tage, ja Wochen lang andauerten. Die Infrastruktur war marode, nicht nur im Stromnetz. Es waren oppositionelle Journalisten, mit denen ich darüber sprach. Und doch waren sogar sie stolz darauf, was die türkische Gesellschaft, was der türkische Staat in den vergangenen Jahren an Aufbauarbeit geleistet hatte. Anhänger von Präsident Erdogan machen ihn dafür verantwortlich. Sie sind ihm dankbar dafür.

Aber Erdogan hat sich gewandelt. Er baut nicht mehr an einer modernen Infrastruktur, er zerstört systematisch Strukturen einer freiheitlichen Gesellschaft. Schon vor dem Putschversuch hat er Berufsgruppen wie Journalisten drangsaliert. Redaktionen wurden mit Klagen überzogen, Redakteure willkürlich verfolgt, Medienhäuser finanziell ausgetrocknet, indem staatliche Unternehmen keine Anzeigen bei ihnen mehr schalten durften, einzelne Redaktionen wurden auch damals schon zwangsweise geschlossen.

In der Woche, die ich in Istanbul verbrachte, hatten mehrere Zeitungen zur publizistischen Notwehr gegriffen. Jeden Tag druckten sie auf der Titelseite einen Kasten in blauer Schrift – bei allen gleich: Journalismus ist kein Verbrechen, hieß es da. Der Anstoß zur gesellschaftlichen und politischen Diskussion musste als Provokation für Erdogan und seine Vollstrecker in den Amtsstuben wirken. Der erhoffte öffentliche Diskurs fand aber nicht mehr statt. Denn das Ende dieser Woche sollte ganz anders verlaufen, als irgendjemand meiner Gesprächspartner es sich in seinen schlimmsten Träumen ausgemalt hätte.

Zum Wochenende flog ich aus Istanbul zurück nach Köln. Ich war erst wenige Stunden wieder in meiner Heimat, da erreichten mich am späten Freitagabend Nachrichten über den Putschversuch. Ich machte mir große Sorgen um die Kollegen, mit denen ich wenige Stunden zuvor noch zusammengesessen hatte. Viele von ihnen waren schon willkürlichen Anklagen ausgesetzt, hatten Angst, bald ins Gefängnis zu müssen. Wohl gemerkt, weil sie nichts anderes getan hatten, als ihre Arbeit zu machen. Deshalb wurden sie verfolgt: Wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten, wegen vermeintlicher Unterstützung von Terrorgruppen. Wer über oppositionelle Kräfte in der Türkei berichtete, musste auch vor dem Putschversuch Existenzangst haben.

Meine Sorgen waren auch deshalb so groß, weil ich vom letzten größeren Militärputsch im Jahr 1980 gelesen hatte – ein Erlebnis, dass auch der heutigen Generation von Journalisten noch gedanklich in den Knochen steckt. Damals waren etliche Kollegen ermordet oder verschleppt worden, manche sind bis heute nicht wieder aufgetaucht. Journalist zu werden war für die heute aktive Generation also ein ähnlich risikobehafteter Beruf wie Feuerwehrmann oder Polizist – man musste immer damit rechnen, im Zusammenhang mit seiner Profession in Gefahr zu kommen, seiner Existenz beraubt zu werden.

Der Begriff des Raubes trifft eigentlich ganz gut, was denjenigen nach dem Putschversuch passiert ist, mit denen ich damals zusammengesessen habe. Wenn ich sie anrufe, gehen sie nicht ans Telefon. Wenn ich ihnen eine Whatsapp-Nachricht schicke, erscheint kein blaues Häkchen. Wenn ich ihnen maile, gibt es in meinem Postfach keine Antwort. Viele dieser Journalisten sind heute arbeitslos, sie sitzen im Gefängnis.

Der Fall Deniz Yücel hat hier in Deutschland für viel Aufsehen gesorgt. Mehr als ein Jahr lang saß der Kollege der Tageszeitung „Die Welt“ im Gefängnis – auch nur, weil er nichts anderes gemacht hat als seine Arbeit. Sein Schicksal hat uns bewegt. Aber es steht symptomatisch für die mehr als 100 Kolleginnen und Kollegen türkischer Herkunft, die in ihrer Heimat im Gefängnis sitzen. Das ist Verrat an Grundrechten, eine Beschneidung von Pressefreiheit, ein unwürdiges Verhalten des türkischen Staates, des türkischen Präsidenten Erdogan. Und anderen Berufsgruppen wie Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten oder Professoren geht es genauso: Nach dem Putschversuch wurden etliche von ihnen entlassen, eingesperrt, ihrer Existenz beraubt.

Das muss endlich aufhören! Das hat auch längst nichts mehr mit der positiven Aufbruchstimmung zu tun, die ich vor einigen Jahren noch im Justizministerium in Ankara erlebt habe. Das ist undemokratisch, unsouverän und unmenschlich. Wenn Präsident Erdogan hier und heute mit allen Ehren empfangen wird, muss er wissen: Wir werden nicht schweigen. Journalismus ist kein Verbrechen!

Herr Erdogan, kehren Sie zurück zur konsequenten Rechtsstaatlichkeit! Halten Sie auch kritische Stimmen aus – nicht jeder, der Kritik an Ihnen übt, ist ein Feind. Holen Sie die Demokratie zurück in die Türkei! Lassen Sie die Journalisten frei, garantieren Sie faire Prozesse und hören Sie auf, die Pressefreiheit zu vergewaltigen. Ich möchte mit meinen Kolleginnen und Kollegen in Istanbul wieder auf der Terrasse sitzen, die leichte Brise am Bosporus genießen: In Freiheit, ohne Existenzangst. Denn: Journalismus ist kein Verbrechen!

Autor: Gastbeitrag von Dr. Frank Überall, Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands djv
Foto: Dr. Frank Überall erinnert sich an die Tage des Putsches in der Türkei.  Bild: djv/Anja Cord