Wuppertal | Das Prinzip ist simpel: Auf einem öffentlichen Platz wird ein großer Bücherschrank gestellt, aus dem jeder Bürger Literatur nehmen kann. Kostenlos. Und ohne Verpflichtung. Die Bücher können gelesen, behalten oder zurückgegeben werden. Wird ein Buch aus der heimischen Sammlung nicht mehr benötigt, kann es in den öffentlichen Bücherschrank gestellt werden. Ein natürlicher Kreislauf des Nehmens und Gebens, der in Nordrhein-Westfalen immer häufiger Verwendung findet.

Im Wuppertaler Luisenviertel befindet sich jetzt auch ein offener Bücherschrank. Der bekannte Autor und Illustrator Wolf Erlbruch hat seiner Heimatstadt eine solche Austauschbibliothek geschenkt – finanziert über eine eigens von ihm gegründete Stiftung. Es ist mittlerweile der 120. Bücherschrank in ganz Deutschland. „Ich möchte dieses Viertel, das so viel Potenzial hat, noch mehr beleben, die Menschen nach draußen locken“, sagt Erlbruch.

1980 wurde der erste offene Bücherschrank in Hannover präsentiert, im Zusammenhang mit einer Abschlussarbeit mehrerer Studenten der Universität. Aus der ungewöhnlichen Idee wurde ein Konzept, das auch in NRW immer mehr Anhänger findet. „Viele Menschen können nicht aktiv am intellektuellen, kulturellen Leben teilnehmen“, erklärt die Sprecherin der Bürgerinitiative Bonn, Ilse Wolf. Ihre Initiative betreut die Finanzierung der Bücherschränke in Bonn. Die Stadt steht mit sechs offenen Bücherschränken ganz oben auf der Liste in Nordrhein-Westfalen. Ziel sei es, eine unbürokratische Alternative zur Bibliothek zu schaffen.

Bücherschränke werden zu Treffpunkten

Tatsächlich sind die offenen Bücherschränke in vielen Städten Treffpunkte geworden. So sieht man vor dem Essener Grillo-Theater immer wieder Menschen aller Generationen vor dem Schrank stehen, lesen und sich zwanglos zu unterhalten. „‚Treffen? Wo? Am Grillo-Bücherschrank.‘ sage ich andauernd zu meinen Freunden und Kommilitonen“, berichtet die 21-jährige Studentin Jaci Busch. „Es ist einfach ein fester Begriff geworden. Ich kenne kaum noch jemanden, der hier nicht schon einmal stehen geblieben, etwas ausgeliehen oder seine alten Bücher gespendet hat“, sagt sie.

Die Idee erfreut sich auch im Internet großer Beliebtheit: Die Initiative „Offener Bücherschrank“ hat 3.000 Fans bei Facebook und in mehreren Internetportalen wird heiß diskutiert, wo es deutschlandweit noch an Schränken mangelt und welche Regale im Umkreis ein besonders gutes Sortiment bieten.

Die offenen Bücherschränke bieten nicht nur die Chance zum lockeren Austausch, sondern auch eine Präsentationsplattform: In Wien organisierten Studenten im Sommer 2005 die ersten Leseabende und Diskussionsrunden rund um die Schränke. Junge Autoren lasen zum ersten Mal vor Publikum aus ihren Werke und die beliebten „Poetry Slams“, rhetorische Wettstreite zwischen aufstrebenden Schriftstellern, fanden rund um die offenen Schränke eine Freiluftbühne. Auch in Bonn und Essen finden bei gutem Wetter Leseabende statt, organisiert von den lokalen Fördervereinen der Stadttheater.

Doch neben der Begeisterung vieler Studenten und Kulturvereine richten sich die Bücherschränke vor allem an junge Leser. Wie in vielen anderen Städten ist auch in Wuppertal eine Grundschule für die Pflege des Schrankes verantwortlich. Kinder, die familiär kaum unterstützt werden und wenig lesen, sollen so zu ungezwungenem Stöbern motiviert werden. „Beim Lesen ist man gefordert, sich mit den Gedanken anderer zu beschäftigen und es entstehen eigene Bilder im Kopf“, sagt Autor Erlbruch. Gerade für Kinder sei „das ein unschätzbares Potenzial, sich umsonst und freiwillig mit Literatur zu beschäftigen“.

Autor: Emily Loh, dapd | Foto: Sascha Schürmann/dapd
Foto: Ein Passant blickt in Wuppertal in einem Offenen Bücherschrank