Köln | Es gilt als eines der interessantesten Bücher der literarischen Saison: „Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan.“ Am 13. November kommt Autor Michael Kleeberg nach Köln. Vorab befragte ihn Christoph Mohr nach seinem Leben als Schriftsteller und zu seinem Buch.

Über den Schriftsteller Michael Kleeberg

Ihre Biographie verzeichnet ein Studium der Politologie und Geschichte und ein Zweitstudium in Visueller Kommunikation, Jobs als Hafenarbeiter im Hamburger Hafen als Pflegehelfer, Journalist und Werber, Lebensstationen in Hamburg, Rom, Berlin, Amsterdam, Paris, Burgund. Wann wussten Sie, dass Sie Schriftsteller sein wollen?

Michael Kleeberg: Im Januar 1977. Mit 17einhalb. Nach vier geschriebenen autobiografischen stories wusste ich: Das ist die Art und Weise, wie du dein leben verbringen, bewältigen, in Form bringen willst.

Und warum?

Ich fühlte mich bei mir und konnte mir nie vorstellen, Arbeit und Leidenschaft zu trennen

Und ab wann konnten Sie als Schriftsteller leben?

Mit 40 etwa. Nach dem zweiten Roman „Ein Garten im Norden“.
 
Sie gelten als immens belesener Schriftsteller. Wahr oder falsch?

Halbwahr. Kommt auf die Referenzgrößen an.

Ihre Säulenheiligen (literarischen Vorbilder)?

Jetzt nur Prosaautoren, sonst wird’s zu lang: Proust, Albert Cohen, Bassani, Thomas Mann, Hesse, Scott Fitzgerald, Kleist, Cervantes. Und noch ein paar mehr. Desto mehr, je länger ich überlege.

In keinem Artikel über Sie darf fehlen, dass Sie auch als Proust-Übersetzer hervorgetreten sind, so als ob Ihnen das die höheren literarischen Weihen verliehen hätte. Wie wichtig ist Proust für Ihr eigenes literarisches Schreiben?

Seeehr wichtig. Ein Genie übersetzen, heißt von einem Genie lernen.
 
Jedes Schreiben ist (auch) autobiographisch. Richtig oder falsch?

Ob jedes, weiß ich nicht. Meins aber ganz gewiss. Wie Thomas Mann sagte: Ich erfinde nicht. Ich finde.
 
Wie arbeiten Sie?

Beamtisch. Morgens ab 10 drei Stunden mit der Hand, um die obligate halbe Seite zu schaffen.

Sie kommen für eine Lesung nach Köln. Für manche Schriftsteller sind solche „Dichterlesungen“ Promotion-Fron zum Verkauf ihrer Bücher, für andere eine willkommene Unterbrechung des Schriftsteller-Alltags am Schreibtisch. Wie ist es bei Ihnen?

Beides: Nebenverdienst. Begegnung mit den Lesern, nachdem man drei Jahre wie ein Maulwurf gelebt hat. Das ist immer sehr bereichernd.

Ihr schönstes Erlebnis auf einer solchen Lesereise?

Da gibt’s sehr viele. Leser, die das ganze Werk zum Signieren bringen. Lebensgeschichten, die man hört. Anregende Begegnungen. You name it.

Und Ihr schrecklichstes Erlebnis?

Mein Düsseldorf-Fluch. Einmal dort nur sechs Leute weil es aus Kübeln gegossen hat. Drei Jahre später wieder nur sechs Leute, weil’s ein sonniger Abend mit 30 grad war. Da hab ich an mir UND Düsseldorf gezweifelt.

Ein Satz noch zu Köln…

Schönste und jeckste Stadt Deutschlands. (Meine Frau kommt aus Köln, also war kein anderer Satz möglich.)

Über das Buch

„Der Idiot des 21. Jahrhundert. Ein Divan“ ist ein Sammelsurium von Einzelgeschichten mit Bezug zum Nahen und Mittleren Osten, ein Panorama verschiedenartigster Berührungen in der Jetzt-Zeit, was nach Stand der Dinge heißt: Bürgerkrieg und Terror, Flucht und Exil, Islamismus und Attentate.

 Der Titel Ihres Buches spielt an zwei bekannte Werke der Weltliteratur an. Muss man „Der Idiot“ von Dostojewski und den „West-östlichen Divan“ von Goethe gelesen haben, um Ihr Buch zu verstehen?

Klares nein. Man muss gar nix gelesen haben. Man muss sich nur auf dieses Buch einlassen wollen.

Goethes „West-östlicher Divan“ ist auch eine Hommage an den persischen Dichter Hafis, den Goethe als Zwilling sieht, als Bruder im Geiste. Verspüren Sie eine ähnliche Affinität zur arabisch-islamischen Welt?

Nicht zur arabisch-islamischen Welt im allgemeinen. Die Bilder eines entfesselten männlichen Mobs aus Pakistan letzte Woche der in seiner Armseligkeit eine Frau ermordet sehen will sind widerlich.

Aber ich liebe einzelne Aspekte dieser Welt und Kultur. Einzelne Menschen und die ungeheure Schönheit Irans.

Ihr Orient ist erstaunlich unsinnlich, ja asexuell, erstaunlich auch deshalb, weil es ja eine ganze kulturelle Traditionslinie der westlichen Orientfaszination und des europäischen Orientalismus gibt, in den Gärten und Palästen des Orients irdische Paradiese zu sehen. Kein Thema für Sie?

Unsinnlich? Da haben sie was anderes gelesen als ich geschrieben habe. Ich finde dort auf quasi jeder Seite Sinnlichkeit. Und auch Erotik

Woher kommt überhaupt Ihr Interesse an dem, was man in früheren Zeiten den Orient nannte und heute Naher und Mittlerer Osten oder arabisch-islamische Welt nennt?

Von der ersten Reise in den Libanon 2002 und den dort kennengelernten Menschen.

Libanon und Iran sind zwei Länder, in denen Sie längere Aufenthalte verbracht haben und die auch in Ihrem Buch vorkommen. Was verbindet Sie mit dem Libanon? Und was verbindet Sie mit dem Iran, der ja, wie man oft vergisst, kein arabisches Land ist, und eine eigene Kulturgeschichte hat, die 2500 Jahre zurückreicht?

Immer wieder dasselbe: die Individuen die man dort kennenlernt. Ihre Gastfreundschaft, Menschlichkeit, Kultur. Ihr Humor. Mit einem Wort: die Freunde, die ich dort gefunden habe.

Die große persische Liebesgeschichte „Leila und Madschnun“ durchzieht Ihr Buch wie ein unsichtbarer Faden, mal wird der Eric Clapton-Song „Layla“ auf Hessisch vorgetragen, mal wenn einer der Protagonisten als herumirrender Wiedergänger des liebesverrückten Madschnun erscheint. Sagen Sie bitte etwas zu dieser Liebesgeschichte, die in der ganzen arabisch-islamischen Welt bekannt ist.

Das orientalische Äquivalent von Romeo und Julia. DIE große tragische Liebesgeschichte. Junges Paar kann nicht zusammenkommen, weil die Eltern des Mädchens den Mann nicht standesgemäß finden. Das Besondere daran: Khais, der Madschnun, also der Liebesverrückte, zerbricht daran und will sein Leben daran zerbrechen sehen. Alle reden ihm gut zu: ist doch nur ne Verliebtheit. Geht wieder vorbei. Findest noch eine Bessere. Aber er: nein. Wenn nicht die, dann nie wieder eine und auch kein sonstiges bürgerliches Leben.

Gleich der dritte Satz Ihres Buch übernimmt, gewollt oder nicht, den Titel eines Buches eines anderen deutschen Kenners des Nahen und Mittleren Ostens: „Die Welt ist aus den Fugen“ von Peter Scholl-Latour. Eine solche „Welt aus den Fugen“ ruft nach einer Erklärung. Teilen Sie die Einschätzung, dass, vereinfacht gesagt,
a) die Amerikaner alles Schuld sind, insbesondere mit dem Irakkrieg von 2003,
b) der Region ein 30-jähriger Krieg bevorsteht, in der sie blutiges Spielfeld der um geostrategische Vormacht ringenden Regionalmächte, also Saudi-Arabien, Iran, Türkei, Russland, bleiben wird?

Scholl-Latour? War mir gar nicht bewusst. Ich dachte, ich zitiere Goethe. Aber die Frage ist zu komplex, um sie in ein paar Zeilen zu beantworten. Man kann mit der Verantwortung des Westens schon bei Napoleon anfangen. Jedenfalls ist die Situation verfahren und stimmt eher nicht hoffnungsvoll. Aber was ich auf 500 Seiten nicht beantworten kann, kann ich auch nicht in drei Zeilen erklären.

In Ihrem Buch bietet einer der Protagonisten noch eine andere Erklärung, nämlich die steile These, dass Ehre, Schande und Rache die gleiche Chose in der archaischen Mittelmeerwelt des Odysseus, im Amerika à la John Wayne und bei den Islamisten sei, und nichts anderes als die „Urangst der Männer vor der weiblichen Sexualität“. Ist das nicht ein bisschen einfach?

Die These ist weder steil noch einfach, noch soll sie den Nahen Osten erklären. Aber die Unterdrückung der Frau durch die Männer, die ihre sexuelle Reinheit als Tauschwert betrachten, ist älter als jeder Monotheismus und leider noch immer aktuell.

Die Rahmenhandlung, die das Sammelsurium an Einzelgeschichten zusammen hält, ist in Mühlheim, einem Vorort von Frankfurt angesiedelt, die Protagonisten kommen aus einem diffus links-alternativen Lehrer- und Sozialarbeitermilieu Frankfurts.

Man vermutet, dass Sie hier eine Goethe-Anspielung konstruieren wollten, der ja 1815 Teile des „West-östlichen Divan“ in der Gerbermühle bei Frankfurt geschrieben hat, wobei auch seine Beziehung zu der Frankfurter Bankiersgattin Marianne von Willemer eine Rolle spielt, die wiederum gleich im ersten Satz Ihres Romans auftaucht.

Aber einmal abgesehen von den literarischen Anspielungen, ist dieses „Taunus-Shiraz“, wie es einmal heißt, nicht auch so etwas wie Ihr utopischer Ort in dieser Welt, die aus den Fugen geraten ist, ein Nicht-Ort, ein nicht-realer Ort, an dem gegessen, geredet und Musik gemacht wird, ein Gegenentwurf zu der schrecklichen Welt, die Sie beschreiben?

Ganz genau.

Interview: Christoph Mohr

[infobox]Michael Kleeberg
Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan.
Galiani Berlin, 2018, ISBN 978-3-86971-139-3;
 
Lesung: Michael Kleeberg Der Idiot des 21. Jahrhunderts
Dienstag, 13. November 2018  19h30
Buchhandlung Klaus Bittner
Albertusstr. 6
50667 Köln
Die Buchhandlung Klaus Bittner wurde soeben auch zur besten Buchhandlung Deutschlands gekürt. Report-K berichtete >

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Autor: Interview: Christoph Mohr | Foto: Lothar Köthe
Foto: Michael Kleeberg  | Foto: Lothar Köthe