Köln | Die Witwe Haifa und ihre Nichte haben als Einzige ihres Dorfes das Massaker überlebt. Nun müssen sie aus dem Irak fliehen. Ziel: Europa, Schweden, Stockholm. 118 Tage dauert der Leidensweg – im Theaterstück „Occident Express“ von Stefano Massini auf 100 eindringliche Minuten komprimiert. Im Schauspiel feierte es jetzt Premiere.

Inszeniert hat es Moritz Sostmann. Wie schon in seinen vorherigen Produktionen schickt er wieder Puppen und Menschen auf die Bühne. Sechs Frauen sind es diesmal, die den Puppen zum Leben verhelfen und ihnen ihre Stimmen leihen.

Kotti Yun, Birgit Walter, Marlene Tanczik, Katharina Schmalenberg, Magda Lena Schlott und Annika Schilling bringen sich auch selber ins Spiel – etwa als Polizisten, als hungrige Kinder. Auch als fast nackte Flüchtlinge, die sich mit schwarzem Öl einschmieren, um besser durch eine stillgelegte Gasleitung kriechen zu können – um dann durch Luken wieder ans „Tageslicht“ der Bühne zu kommen.

Strapazen, Mühen, Grauen und Verzweiflung werden handfest spürbar

Es ist eine sparsame Inszenierung, das Geschehen konzentriert sich auf ein weißes, vielleicht fünf mal fünf Meter messendes Podest. So wird alles viel intensiver, als man es von Sostmanns bisherigen, oft opulenten Arbeiten kennt. Strapazen, Mühen, Grauen und Verzweiflung werden handfest spürbar.

Und davon gibt es genug auf der Flucht in umgekehrter Richtung, die seinerzeit der legendäre Luxuszug „Orient Express“ nahm. In 16 Etappen ist die Flucht eingeteilt, angezeigt werden sie – wie in einem Bahnhof – auf einer Anzeigentafel. Auf einer der ersten wird ein hilfreicher LKW-Fahrer bei einer Kontrolle erschossen – sein zehnjähriger Sohn ergreift statt seiner das Lenkrad. Ein Kind ertrinkt bei der Überfahrt. Mit Stacheldraht und Minenfeldern gesicherte Grenzen werden überwunden, die kalte Donau durchschwommen.

Kaum ein „Helfer“, der nicht an den Flüchtlingen verdienen will

Kaum ein „Helfer“, der nicht an den Flüchtlingen verdienen will: Schlepper und Schleuser halten die Hand auf, rauben sie bis auf die Haut aus – um anschließend für die neuen Kleider zu kassieren. Drogendealer lassen sich mit dem Schmuggel von geschluckten Plastikbeuteln, gefüllt mit Rauschgift, bezahlen. Die Polizei ist alles andere als Freund und Helfer. Gäbe es nicht auch die gegenseitige Hilfe, die Flucht hätte keine Chance auf Erfolg.

Poetische Momente zwischen den Schockbildern erlauben dem Publikum kleine Erholungspausen. Doch wenn die Puppe Haifa in letzter Sekunde die Hand ergreifen kann, die sie auf den rettenden Güterzug zieht, zittern die Zuschauern wieder mit. Lichteffekte zeichnen die ratternden Schwellen nach und den Regen, der auf das Zeltlager pladdert. Da fröstelt es auch den mitfühlenden Zuschauern.

Immer wieder droht Haifa wegen ihres Alters zurückgelassen zu werden. Dann spricht ihr das Ensemble abwechselnd und mit Erfolg Mut und Trost zu. Doch ob sie und die von ihr angenommenen Kinder – als Muslima in einem Schweinetransporter versteckt – Stockholm erreicht, bleibt offen. So offen, wie human die künftige deutsche Flüchtlingspolitik aussehen wird.

„Occident Express“ – die nächsten Vorstellungen: 14. und 17. Oktober (jeweils 20 Uhr), 22. Oktober (19 Uhr), Schauspiel Köln, Depot 2 im Carlswerk, Schanzenstr. 6-20, 51063 Köln-Mülheim, Karten: Tel. 0221 / 22 12 84 00, Fax 0221 / 22 12 82 49, E-Mail: tickets@buehnenkoeln.de, dazu alle Vorverkaufsstellen von KölnTicket. Kartenservice mit Vorverkauf und Abo-Büro in der Opernpassage zwischen Glockengasse und Breite Straße. 

Autor: ehu | Foto: Krafft Angerer / Schauspiel
Foto: „Occident Express“: Ein hilfreicher LKW-Besitzer hat die Witwe Haifa auf ihrer Flucht mitgenommen. Wie geht es weiter?