Bochum | Eine Sänfte im Dschungel, ein brennender Palast, ein asiatischer Drache: „Europeras 1 & 2“ katapultiert die Zuschauer durch die Bühnenbilder der Operngeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Zum 100. Geburtstag von John Cage (1912-1992) bringt der neue Intendant der Ruhrtriennale, Heiner Goebbels, dessen radikalen Entwurf des Musiktheaters auf die Bühne. Das Kulturfestival inszeniert als Eröffnungsstück ein Kaleidoskop aus Bildern, Kostümen und Arien von 128 Opern – und bezieht dabei die stählerne Architektur der Bochumer Jahrhunderthalle mit ein.

Ein Künstler in einem Affenkostüm seilt sich an einer nachgestellten Liane ab. Eine weiße Sänfte wird auf die Bühne getragen, als sei das prunkvolle Gestell im Urwald das Natürlichste der Welt. Der Kosmos „Cage“ funktioniert autonom: Jeder Künstler verfolgt emsig sein Ziel, als fehlten Mitspieler und Zuschauer. „Jedes Element hat seinen eigenen Status, seine völlig unabhängigen Zustände von Aktivität“, hat der US-amerikanische Komponist zu Lebzeiten gesagt. Goebbels nennt „Europeras“ eine „Oper der Wandlungen“, die jegliche Eigennamen entferne und die Sätze nach dem Zufall wieder neu zusammenfüge.

64 Arien neu montiert

Rund 80 Meter von der Sänfte entfernt, in der Flucht der Jahrhunderthalle, singt ein stämmiger Mann unter einem sternförmigen Lampion. Eine Frau im roten Kleid trippelt an ihm vorbei, lässt ihre helle Stimme ertönen. 64 Arien verschiedener Komponisten der klassischen Operntradition werden in „Europeras 1 & 2“ neu montiert und einige von ihnen gleichzeitig gesungen. „Das Werk beschäftigt mich schon seit vielen, vielen Jahren“, sagt Goebbels. Er verstehe nicht, warum dieses Schlüsselwerk des Neuen Musiktheaters seit der Uraufführung 1987 fast gänzlich aus dem Repertoire verschwunden sei.

Das soll sich ändern. „Wir wollen die Entwürfe des Musiktheaters des 20. Jahrhunderts stark machen, die sonst keine Chance haben“, sagt Goebbels. „Europeras“ ermögliche, aus dem Gesehenen und Gehörten einen eigenen Raum zu bilden. „Das ist durchaus etwas sehr Vergnügliches, das die Zuschauer dazu ermächtigt, über Sinn und Unsinn zu entscheiden“, fügt er schmunzelnd hinzu.

Ein Mann mit Zylinder hat sich auf der Bühne gebückt, als sitze er auf einem Sofa. Dieses wird jedoch erst Minuten später hereingetragen. Leises Schnauben ist aus dem Publikum zu hören, einige Zuschauer unterdrücken ein Lachen.

„Die Oper wird nicht dirigiert“

Die Verschiebung von Zeit und Raum ist keinesfalls willkürlich. Nach dem Zufall wählt und arrangiert der Komponist zwar seine „objet trouvé“, seine „gefundenen Dinge“. So nannte er die Elemente seiner Oper im Sinne des Konzeptkünstlers Marcel Duchamp (1887-1968), in dessen Kreisen er sich bewegte. Danach geben jedoch Digitaluhren die Regeln vor. Auf Anzeigetafeln an mehreren Stahlträgern der Halle laufen in weißer Schrift die Sekunden. „Die Oper wird nicht dirigiert, sondern von vielen Videomonitoren zusammengehalten“, soll Cage gesagt haben. Eine Frau in weißem Kleid huscht über die Bühne, um noch rechtzeitig zu einem der 64 Felder zu kommen, die auf dem Boden markiert sind.

Dröhnend rollen ein Gabelstapler und ein Steiger auf die Bühne. Mit ihrer Hilfe wird ein neues Bild montiert und doch sind die Fahrzeuge zugleich Teil der Inszenierung – eines Kampfes der Sänger gegen den Geräuschpegel. Goebbels lässt die Zuschauer hinter die Kulissen blicken, macht aus Pflichtarbeiten keinen Hehl. Selbst die Liane, an der der Künstler im Affenkostüm geklettert ist, hat er deutlich sichtbar an einer Stahlbrücke befestigen lassen. Das passt in Cages anarchisches Konzept: Jedes Element hat eben seinen eigenen Status.

Autor: Sandra Hottenrott, dapd