Köln | Weg mit der alten Litanei über die Ungerechtigkeiten des Lebens! Lasst uns feiern – das Leben ist eine riesige Apres-Ski-Party! Elfriede Jelineks „Winterreise“ – beruhend auf den wehmütigen, gut 200 Jahre alten Gedichten von Wilhelm Müller, vertont von Franz Schubert – hat eine bittere Schlusspointe. 2012 inszenierte Stefan Bachmann das Stück am Wiener Burgtheater, jetzt hat er es nach Köln geholt.

Jammern, trauern, klagen, nörgeln, mehr oder weniger wehleidig in Erinnerungen versinken – das sind die Grundbefindlichkeiten, die dieses Stück durchziehen. Es beginnt mit einer fetten, nackten, alten Frau, die sich aus einem engen Loch ans Licht gezwängt hat. Barbara Petritsch sinniert über Zeit und Geschichte, in der sie ihren Platz nicht finden kann. Denn ehe man sich versieht, ist schon alles vorbei. Zurück bleibt das große Scheitern.

Acht romantische Lieder, acht Szenen zur aktuellen Gemütslage

Fast tröstlich singt danach Jan Plewka (Frontmann der Rockband „Selig“) das Müller-Lied „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus“. Er kann sensibel, aber auch aggressiv – holt so die alte Romantik ins nüchterne Heute. Begleitet wird er dabei am Klavier von Felix Huber. Der Wechsel zwischen den alten Texten und acht davon inspirierten Texten zur aktuellen Gemütslage der (österreichischen) Gesellschaft bestimmt das Stück. Es sind die typischen Jelinek-Texte: Sie mäandern herum, ziehen Schleifen, verlieren sich und kommen wieder zurück, ironisieren und stellen Fragen, Fragen, Fragen…

Da diskutieren Banker über den Wert einer Braut, die verkauft wird und von diesem Verkauf auch selber profitiert. Zwei Mädchen trauern der verlorenen Jugend nach, verschwunden ist sie, ihre Spuren führen ins Nichts – und Erinnerungen an die Entführung von Natascha Kampusch werden geweckt. „Ich such im Schnee vergebens nach ihrer Tritte Spur“, singt Plewka danach. Es geht um Liebe im Internet und um Liebe mit Rückgaberecht. Am eindrucksvollsten ist der Auftritt von Martin Reinke. Auch er steckt im Loch, ist gefangen in seiner Demenz, findet keinen Kontakt mehr zu Frau und Tochter. Neben den schon Genannten spielen noch Melanie Kretschmann, Simon Kirsch, Gerrit Jansen, Dorothee Hartinger.

Wer nicht im Loch steckt, muss sich vor dem Abrutschen hüten

Wer nicht im Loch feststeckt, muss aufpassen, dass er – egal ob er geht, liegt oder sitzt – nicht abrutscht (was natürlich nicht passiert, weil alle durch Seile gesichert sind): Alles spielt sich auf einer steil-schrägen, schwarz glitzernden Ebene ab. Ein in Köln nicht ganz unbekanntes Bild für die Schwierigkeiten, sich im Leben zu behaupten. Hier zeigt sich wieder einmal Bachmanns Gespür für ausdrucksstarke Bilder.

Zum Schluss steckt noch einmal Barbara Petritsch mit ihrem Fettkostüm im Loch fest. Sie beklagt sich darüber, dass keiner ihrer Litanei zuhört. Und während noch das wehmütige Lied vom „Leiermann“ erklingt, klappt am Ende der Schräge ein Brett hoch und enthüllt die wilde Apres-Ski-Party. Es rieselt der Schnee und Ski-, Snowboard- und Schlittenfahrer stürzten sich den Abhang hinunter.

Nein, die alten Litaneien will keiner mehr hören. Jetzt wird gefeiert und DJ Ötzis „Ein Stern, der deinen Namen trägt“ verdrängt den Leiermann aus den Gehörgängen. Da kann sich auch das Publikum nicht bremsen – der Premieren-Schlussbeifall geht in begeistertes rhythmisches Klatschen über.

[infobox]„Winterreise“ – die nächsten Vorstellungen: 18. und 21. Mai, jeweils 19.30 Uhr, 27. Mai, 16 Uhr. Schauspiel Köln, Depot 1 im Carlswerk, Schanzenstr. 6-20, 51063 Köln-Mülheim, Karten: Tel. 0221 / 22 12 84 00, Fax 0221 / 22 12 82 49, E-Mail: tickets@buehnenkoeln.de, dazu alle Vorverkaufsstellen von KölnTicket. Kartenservice mit Vorverkauf und Abo-Büro in der Opernpassage zwischen Glockengasse und Breite Straße.

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Autor: ehu | Foto: Tommy Hetzel / Schauspiel
Foto: Elfriede jelineks „Winterreise“ im Kölner Schauspiel: Abwärts mit Juchhei! Das Leben ist kein Ponyhof, sondern eine wilde Après-Ski-Party. | Foto: Tommy Hetzel / Schauspiel