Köln | Es sind Sätze auf Schultafeln, Anrufe bei der Polizei oder Meldungen bei Lehrern: Rund 400 Amokläufe werden pro Jahr durchschnittlich von Schülern in Deutschland angedroht. Das geht aus einer bislang unveröffentlichten Studie der Universität Köln hervor. Demnach wurde zwischen 2006 und 2010 allein in den zehn Bundesländern, aus denen Daten zur Verfügung standen, in 2.600 Fällen vor einem Schusswaffengebrauch an Schulen gewarnt. Der Darmstädter Kriminologe Jens Hoffmann geht sogar von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus.

Erstmals sammelte die Psychologin Sarah Neuhäuser bundesweit Zahlen, die auf polizeilich registrierten Androhungen zurückgehen. Die meisten Vorfälle gab es in dem Zeitraum in Nordrhein-Westfalen. Dort wurden 1.280 Drohungen verzeichnet. Als Grund wurde das gute Datenerfassungssystem in dem Flächenland genannt. Nur eine Hand voll der Drohungen werde in die Tat umgesetzt, sagte die Studienleiterin der Nachrichtenagentur dapd. Statistisch gesehen sei aber fast jedes Jahr ein sogenanntes School-Shooting in Deutschland möglich. Von 1999 bis 2009 gab es neun Schulamokläufe in Deutschland, bei denen 35 Menschen getötet und über 50 verletzt wurden.

Kriminologe rechnet mit deutlich mehr Drohungen

Der Darmstädter Kriminologe Jens Hoffmann geht davon aus, dass es deutlich mehr als 400 Amokdrohungen von Schülern jährlich gibt. „Ich halte es für eine Unterschätzung“, sagte der Leiter des Instituts für Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt der Nachrichtenagentur dapd. Es gebe nicht offizielle Zahlen zu Amokdrohungen aus einzelnen Städten, die zusammengenommen eine höhere Summe ergäben als jetzt in der Studie aufgeführt.

Der Erhebung der Universität Köln zufolge gehen die meisten Drohungen auf männliche Schüler zurück. Die Tendenz bei Mädchen ist aber steigend. Das Durchschnittsalter liegt bei 16 Jahren. Am häufigsten sind Real- und Gesamtschulen betroffen. Die Motive seien sehr unterschiedlich, sagte Neuhäuser. Unter anderem seien Übermut, Trotz, Rache, eine Suizidabsicht oder Prüfungsangst ein Grund.

Wissenschaftlerin verlangt bundesweites Erfassungssystem

Den Angaben zufolge kündigen Amokläufer ihre Anschläge oft lange im Voraus an, um auf sich aufmerksam zu machen. Bei allen durchgeführten Amokläufen habe es vorher Anzeichen gegeben, sagte Neuhäuser. Daher bevorzuge sie den Begriff „School-Shooting“. Amok impliziere eine spontane Aktion. Als Konsequenz verlangt die Wissenschaftlerin ein bundeseinheitliches Erfassungssystem für Drohungen. Neuhäuser verwies zudem auf einen Trittbrettfahrer-Effekt nach der Berichterstattung über einen Amoktäter. Unmittelbar nach dem Amoklauf in Winnenden im März 2009 habe sich die Zahl der Drohungen bundesweit vervierfacht. In Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen sei die Zahl der Amokdrohungen binnen eines Monats sogar um das 30-Fache gestiegen.

Autor: Michael Reis und Fabian Wahl | dapd
Foto: Symbolfoto