Köln |  Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ jüngst vernehmen: „Das Internet ist für uns alle Neuland“. Grund genug, vor der Bundestagswahl 2013 die Netzpolitik der Parteien einmal unter die Lupe zu nehmen. Report-k.de befragte dazu CDU, SPD, Grüne, FDP, Linke und die Piraten in Interviews. Nicht alle haben sich dazu bis heute geäußert, diese Interviews werden nachgeliefert. Jens Seipenbusch, Mitglied im Gründungsvorstand der Piraten und Kandidat auf Platz 4 der NRW-Landesliste, erklärt im Interview, warum in jedem Ministerium ein „Internet“-Staatssekretär nötig ist, warum er das Leistungsschutzgesetz für einen „Schandfleck“ hält und welche Ziele die Piraten vorrangig umsetzen wollen.

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Report-k.de: SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück hat Gesche Joost als Expertin für Netzpolitik und vernetzte Gesellschaft in das Wahlkampfteam berufen. Wollen auch Sie einen derartigen Posten einführen? Wäre ein Ministerium für Internet und Netzpolitik denkbar?

Jens Seipenbusch: Frau Joost ist eine Netzpolitikerin, die keine ist, wie so treffend bereits die ZEIT bemerkte. Hier zeigt die SPD einfach nur erneut ihr permanentes Versagen auf diesem Bereich, der Online-Beirat läßt grüßen. Wir Piraten haben hingegen netzpolitische Kompetenz in der Partei und bei den Bundestagskandidaten, die müssen wir uns nicht außerhalb suchen. Ich selbst arbeite beispielsweise am und im Internet seit 1992, noch bevor das WWW als Dienst dazukam. Bei den digitalen Bürgerrechten muss man sich in den Details des Maschinenraums auskennen, das ist keine Frage des Grafikdesigns. Nicht umsonst haben wir 2006 gemeinsam mit sehr vielen Internetexperten die Piratenpartei überhaupt aus der Taufe gehoben – als Expertenteam zugunsten einer gerechten, menschenwürdigen Informationsgesellschaft. In sämtlichen anderen etablierten Parteien werden Netzpolitiker maximal als Garnitur benutzt – von denen ist keinerlei wesentlicher politischer Fortschritt in dieser Sache zu erwarten.

Ein Ministerium für Internet und Netzpolitik klingt zunächst mal verlockend, aber ich glaube nicht, dass es die notwendige Breitenwirkung auf alle Politikfelder erzielen würde. Das Besondere ist ja die fundamentale Umwälzung in allen gesellschaftlichen Bereichen, die man nicht isoliert behandeln sollte. Wir müssen dennoch dringendst Netzpolitik und digitale Kompetenz in die Regierung und die Politik bringen. Und diese muss über reine Beratung, wie bei der jüngsten Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ deutlich hinausgehen. Für die kommenden wichtigen Jahre würde ich mir in JEDEM Ministerium einen zusätzlichen kompetenten Staatssekretär für diese Aspekte wünschen.

Beschreiben Sie Ihre Vision einer vernetzten Gesellschaft?

Ich strebe nicht nach Utopia, meine Visionen umfassen die Wahrung von Freiheit und Bürgerrechten in einer Gesellschaft, deren technischer Fortschritt das Potential zu einer absoluten totalitären Überwachungsstruktur hat. Mir sind Menschen ein Graus, die anderen vorschreiben wollen, was sie wie zu tun und zu lassen haben. Eine lebenswerte Zukunft ist für mich eine Zukunft, in der ich als einzelner sicher bin vor permanenter Verdächtigung durch den Staat, vor umfassender Ausspähung durch Firmen und andere Einrichtungen und vor ständig notwendiger Selbstausbeutung durch wirtschaftlichen Druck. Kurz, mein Ziel ist eine freie, vernetzte Gesellschaft, die gemeinwohlorientiert strukturiert ist.

Was sollte Ihrer Meinung nach im Internet bevorzugt gefördert und gesichert werden: Unternehmerisches Interesse oder die Freiheit im Netz?

Das Internet ist für mich politisch primär als öffentlicher Raum zu verstehen. Insofern ist Internet Infrastruktur, die sowohl Unternehmen, wie privaten Personen zugutekommt. Wenn man jetzt an facebook und Co. denkt, benötigen diese Firmen wohl kaum  gesetzlichen Fördermaßnahmen, sondern müssen selbstredend die existierenden Rechte der Bürger und ihrer Kunden bei ihren Geschäften vollumfänglich berücksichtigen. Der Marktplatz Internet bietet ohnehin bereits traumhafte wirtschaftliche Möglichkeiten, da muss man dem Verbraucher keine neuen Einschränkungen zumuten. Geschäftsmodellen die alleine auf Datenmißbrauch beruhen sollten online wie offline eine wirksame Absage erteilt werden. Da fehlt es aber vor allem an der Durchsetzung beispielsweise durch ausreichend ausgestattete und wirklich unabhängige Datenschutzbehörden. In den meisten wirtschaftlich relevanten Bereichen sehe ich berechtigte unternehmerische Interessen aber nicht im Konflikt mit Freiheit im Netz. Gefördert werden müsste zuallererst die Bildung, damit aufgeklärte Menschen auch in die Lage versetzt werden, für sich überhaupt die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Nennen Sie drei Ziele, die Sie im Bereich der Netzpolitik bevorzugt umsetzen wollen.

Im engeren Sinne der Politik des Netzes ist das wichtigste Ziel eine starke gesetzliche Verankerung der Netzneutralität. Damit würde nicht nur das Problem der Drosselkom und der dahinterstehenden Monopolgefahr bekämpft, sondern auch ein wichtiger Pfeiler gegen Internetzensur und Reterritorialisierung eingeschlagen. Wir würden uns sozusagen selbstverpflichten, nicht wie die Chinesen eine digitale Mauer um unser Land aufzubauen. Das ist nämlich das, was gerade tagtäglich ein Stückchen mehr passiert, sei es unter dem Deckmantel des sogenannten Leistungsschutzrechtes oder des völlig fehlgeleiteten Jugendschutzes.

Und im weiteren netzpolitischen Sinne steht der Markenkern der Piratenpartei ganz vorne: Zum einen die Reform des Urheberrechts, um endlich die Neuen Medien angemessen zu behandeln. Zum anderen der Schutz der Privatsphäre, der Datenschutz und damit der Kampf gegen die Überwachungsgesellschaft. Dieses dritte Ziel ist absolut vorrangig, denn in einer unfreien Gesellschaft werden wir überhaupt keine andere Forderung mehr auf demokratische Weise behandeln können. Im Bereich des Urheberrechts brauchen wir ein wirkliches Umdenken, damit die Vorteile der Digitalisierung nicht nur bei wenigen verbleiben, sondern allen Menschen zugutekommen. Hier ist Deutschland nach wie vor rückständig.

Wie stehen Sie zur geplanten DSL-Drosselung der Telekom? Droht eine digitale Zwei-Klassen-Gesellschaft?

Die derzeitige Drosselungspraxis der Telekom halte ich für einen Wettbewerbsverstoß und irreführende Werbung. Ich bin erstaunt, dass die Aufsichtsbehörden und die Politik dort nicht härter einschreiten. Andererseits sind dies ja dieselben Politiker, die bei der Entmonopolisierung der Telekom und der Regulierung des Telekommunikationsmarktes insgesamt versagt haben. Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft haben wir in gewisser Weise schon jetzt, allerdings durch den unzureichenden Breitbandausbau in nichtstädtischen Regionen in Deutschland. Die Drosselung würde vor allem zur Ausweitung des verbliebenen Quasimonopols der Telekom auf andere Wirtschaftsbereiche führen. Das kann nicht im allgemeinen Interesse sein. Im Gegenteil benötigen wie eine wettbewerbsfördernde Neuregulierung und auch staatliche Investitionen in die Internet-Infrastruktur.

Wie beurteilen Sie das Leistungsschutzrecht?

Als Netzpolitiker möchte man schier verzweifeln angesichts dieses Schandflecks der Gesetzgebung. Dieses Geschenk der CDU an die Lobbyisten des Springer-Verlags läßt die Hotelsteuer-Affäre der FDP wie Kavalierskorruption aussehen. Zudem ist das Gesetz im sogenannten handwerklichen Sinne sehr schlecht gemacht. International blamiert sich Deutschland mit dieser von uns ‚Leistungsschutzgeld‘ genannten Absurdität bis auf die Knochen. Die Regierung versucht hier per Gesetz die Zeit zurückzudrehen anstatt sich den Herausforderungen angemessen zu stellen.

Was muss Deutschland im Bereich der digitalen Gründungspolitik noch lernen?

Deutschland hat schon in der herkömmlichen Gründungspolitik einigen Nachholbedarf. Auch bei digitalen Geschäftsfeldern stören Überregulierung und mangelnde Flexibilität. Das wichtigste sind aber schlaue gesetzliche Rahmenbedingungen und für die müsste der Gesetzgeber vermehrt Sachkompetenz einbinden. Am Beispiel von DE-Mail kann man sehr gut erkennen, was alles falsch laufen kann, wenn man mit dem Rüstzeug von gestern die Wirtschaft von morgen gestalten will. Und in anderen Bereichen des e-Governments sieht es nicht viel besser aus. Nicht umsonst fordern wir PIRATEN ja eine staatliche Zertifikatsinfrastruktur mit kostenloser Nutzung durch die Bürger. Wir müssen nicht das Rad neu erfinden, sondern nur die notwendigen Eckpunkte vorgeben, in denen sich dann auch digitale Unternehmen innovativ bewegen können.

In NRW will Staatssekretär Marc Jan Eumann eine Stiftung für Lokal-Journalismus gründen. Wäre etwas Ähnliches auch vom Bund denkbar? Wie wollen Sie künftig Online-Medien stärker fördern?

Von einer Stiftung, die das Land Nordrhein-Westfalen oder der Staat bezahlt, halte ich in dieser Sache nichts. Welche Art von Journalismus will man denn damit erzeugen? Nachdem die CDU schon das ZDF zu ihrem Haussender gemacht hat, und die SPD sich mit ihren Verlagsbeteiligungen in den zurückliegenden Jahren ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckert hat, sehe ich selbst eine indirekte Verquickung hier mehr als kritisch. In Bezug auf Online-Medien müsste man zunächst mal das Leistungsschutzrecht wieder loswerden, denn es behindert vorwiegend die kleineren Marktteilnehmer. Ein neues Urhebervertragsrecht, wie wir es fordern, würde die jetzige unbefriedigende Situation vieler Online-Journalisten sicher verbessern. In diesem Bereich wird es aber auch in den kommenden Jahren sicher einigen Wandel geben, deshalb sollte man hier behutsam vorgehen. Nach wie vor unbefriedigend ist die Ignoranz der Regierungen der letzten Jahre hinsichtlich eines verlässlichen Micropayments im Internet.

Was kann die Demokratie vom Internet lernen?

Der demokratische Prozess wird sich ebenfalls durch das Internet verändern, dies hat ja bereits begonnen. Die Medienlandschaft wandelt sich sehr stark. Der gesamte Informationsprozes und auch die Debatten und die Meinungsbildung wandern verstärkt ins Internet. Es gibt Chancen zur Stärkung der Zivilgesellschaft und zu vielfältig besserer Einbindung des einzelnen Bürgers in die Prozesse von Politik und Verwaltung. Vieles wird stärker demokratisiert oder hat zumindest das Potential dazu. Viele zuvor unhörbaren Stimmen können nun wahrgenommen werden. Zugleich ist dieser Demokratisierungsschub in seiner Vielstimmigkeit aber auch eine große Herausforderung an die Politik, denn man muss neue Verfahren finden und vieles auch erst mal ausprobieren.

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Autor: Frida Baumgarten | Foto: PR
Foto: Jens Seipenbusch, Mitglied im Gründungsvorstand der Piraten