Münster | Gewerkschafter Jürgen Grunwald sieht die Nominierung von Peer Steinbrück zum SPD-Kanzlerkandidaten pragmatisch. Auf dem Landesparteitag in Münster sagt er am Samstag: „Frank-Walter Steinmeier war mir im letzten Wahlkampf zu lasch. Steinbrück ist einer, der angreift und Dinge beim Namen nennt.“ Der Gewerkschaftssekretär der IG Bergbau, Chemie, Energie im Landesbezirk Westfalen hofft aber auch, dass Steinbrück aus dem Mitgliederverlust nach den sozialen Einschnitten der „Agenda 2010“ gelernt hat.

Nicht alle Mitglieder oder Delegierten aus dem linken Parteiflügel sind so zuversichtlich wie der 65-Jährige. Während der kräftig gebaute Gewerkschafter mit Tonsur, Brille und braunem Sakko glaubt, dass sich der ehemalige Finanzminister der großen Koalition künftig daran hält, was die Delegierten ihm auf den Weg geben, sind andere Delegierte vor Steinbrücks Rede noch nicht davon überzeugt.

Die Agenda-Politik wirkt nach

Die Dortmunder Delegierte Monika Rößler ist „sehr traurig“ über die Entscheidung in der K-Frage. Weil Steinbrück als Finanzminister von 2005 bis 2009 so eng mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zusammengearbeitet hatte, sieht sie in Steinbrück noch die große Koalition verkörpert. Die 48-jährige Frau mit grünem T-Shirt, roter Cordhose und einem Rucksack auf dem Rücken fordert: „Wir wollen einen echten Politikwechsel.“ In einem Kanzlerkandidaten Sigmar Gabriel hätte sie diesen eher gesehen, aber der Parteichef steht nicht zur Verfügung.

Ihr Gegenüber Jörg Feldmann, der genauso wie Rößler eine Baskenmütze trägt, fügt hinzu: „Steinbrück steht noch für die Agenda-Politik von Gerhard Schröder.“ Steinbrück müsse das durch die Agenda 2010 verloren gegangene Vertrauen zurückgewinnen, fordert der 55-Jährige, und die Partei wieder zusammenführen.

Steinbrück punktet mit klarer Aussage

Auch Steinbrück spürt die Skepsis der Parteilinken und begegnet ihr, indem er deutlich macht, dass er für ein Kabinett Merkel nicht zu gewinnen sei. Das kommt an. Unter den 486 Delegierten in der Halle Münsterland brandet daraufhin zum ersten Mal Applaus auf. Zwar fordert der frühere Bundesfinanzminister auch von Parteilinken wie Rößler und Feldmann Verständnis für den eigenen Weg: „Das Programm muss zum Kandidaten passen, der Kandidat zum Programm. Ihr müsst dem Kandidaten an der einen oder anderen Stelle auch etwas Beinfreiheit einräumen.“

Doch Steinbrück beschließt seine Rede mit den versöhnlichen Worten: „Ich werbe für euer Vertrauen, meines habt ihr.“ Die Mehrheit der Delegierten reagiert mit minutenlangen stehenden Ovationen, Pfeifen und Klatschen. Selbst bei Rößler kann er punkten. „Ich finde gut, dass er in einer großen Koalition mit der CDU nicht als Vizekanzler zur Verfügung steht“, sagt sie. Wenn er jetzt noch umsetze, was er bei seinem ersten großen Auftritt als Kanzlerkandidat versprochen habe, dann sei er auch ihr Kandidat.

Offenbar hat nicht nur Gewerkschafter Jürgen Grunwald seinen Frieden mit dem Wirtschaftsfreund Steinbrück geschlossen. Der Gewerkschaftssekretär glaubt, dass in der Eurokrise genau seine Kompetenzen gefragt sind und fasst die Aufbruchsstimmung auf dem Parteitag in der Friedensstadt Münster trotz aller vergangenen Differenzen so zusammen: „Eines eint die Partei: Die CDU als gemeinsamen Feind zu schlagen.“

Autor: Jean-Charles Fays, dapd | Foto: Sascha Schürmann, dapd
Foto: Peer Steinbrück, designierter Herausforderer von Angela Merkel.