Berlin | Nach den jüngsten Verhaftungen von Menschenrechtsaktivisten in der Türkei hat Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) eine Neuausrichtung der deutschen Türkei-Politik angekündigt. Die Vorwürfe gegen die Menschenrechtler seien „offensichtlich unbegründet und an den Haaren herbeigezogen“, sagte Gabriel am Donnerstag in Berlin. Deswegen könne man gar nicht anders, „als unsere Reise- und Sicherheitshinweise anzupassen“.

Das Verhältnis mit der Türkei sei in den letzten Jahren „schweren Belastungen ausgesetzt gewesen“. Man habe viel Geduld für den türkischen Bündnispartner aufgebracht, auch wenn das oft nicht leicht gewesen sei. Man könne aber nicht so weiter machen wie bisher.

Unternehmen könne man nicht mehr zu Investitionen in der Türkei raten. Auch über die EU-Vorbeitrittshilfen für die Türkei müsse man mit den europäischen Bündnispartnern reden. Die Entscheidung für eine Anpassung der deutschen Türkei-Politik habe er sowohl mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) als auch mit SPD-Chef Martin Schulz abgestimmt, so Gabriel.

Ein türkisches Gericht hatte am Dienstag Untersuchungshaft gegen insgesamt sechs Menschenrechtler angeordnet, weil diese den Terror unterstützt haben sollen. Konkret begründete das Gericht diese Anschuldigung aber nicht. Unter den Inhaftierten ist auch ein Deutscher.

Wegen des Vorfalls war am Mittwoch der türkische Botschafter in Berlin ins Auswärtige Amt zitiert worden. Dabei sei ihm „klipp und klar“ gesagt worden, dass die Verhaftung der Menschenrechtsaktivisten „nicht nachvollziehbar und auch nicht akzeptabel“ sei, wie der Sprecher des Ministeriums mitteilte.

Zypries: Regierung wird deutsche Unternehmen in Türkei verteidigen

Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) hat deutschen Unternehmen, die Geschäftsbeziehungen in die Türkei unterhalten, ihre Unterstützung zugesichert. „Ich und die gesamte Bundesregierung werden die deutschen Unternehmen selbstverständlich gegen völlig unberechtigte und unverständliche Anschuldigungen verteidigen. Dabei stehen insbesondere auch der Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutscher Unternehmen im Mittelpunkt“, sagte Zypries dem „Handelsblatt“ (Freitagsausgabe).

Am Mittwoch hatte die Wochenzeitung „Die Zeit“ von einer „Schwarzen Liste“ mit deutschen Firmen berichtet, denen türkische Behörden vorwerfen, terroristische Organisationen zu unterstützen. Eine Liste mit insgesamt 68 Firmen und Einzelpersonen wurde demnach dem Bundeskriminalamt übergeben. Der für Wirtschaftsfragen zuständige Vize-Ministerpräsident Mehmet Simsek hat den Bericht am Donnerstag via Twitter dementiert.

„Wir erleben einen Tiefpunkt in den deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen“, sagte Zypries am Donnerstag. „Wenn unbescholtene deutsche Unternehmen plötzlich auf `schwarzen Listen` auftauchen und als Terror-Unterstützer gebrandmarkt werden, dann ist das ein Klima, das weitere Geschäfte und Investitionen in der Türkei äußerst schwierig macht. Wir werden jetzt innerhalb der Bundesregierung und mit unseren europäischen Partnern beraten, wie wir weiter vorgehen.“

Das gelte auch für die Themen Wirtschaftshilfen für die Türkei oder Weiterentwicklung der Zollunion. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) hatte zuvor unter anderem Beschränkungen bei Hermes-Bürgschaften als mögliche Maßnahmen genannt. „Ich kann nur nochmal ganz deutlich an unsere türkischen Partner appellieren: Rechtsstaatlichkeit ist der entscheidende Faktor für wirtschaftlichen Erfolg“, sagte Zypries.

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Reaktionen

Türkische Gemeinde begrüßt Neuausrichtung der Türkei-Politik

Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, hat die Neuausrichtung der deutschen Türkei-Politik begrüßt. „Die Verhaftung deutscher Staatsbürger in der Türkei ist für die deutsche Regierung zu Recht ein Anlass, ihre Türkei-Politik neu auszurichten“, sagte Sofuoglu der „Rheinischen Post“ (Freitagsausgabe). „Deutschland muss jetzt handeln, sonst verliert es nach innen und nach außen seine Glaubwürdigkeit.“ Es sei „angebracht, jetzt gegenüber der türkischen Regierung klare Kante zu zeigen“, sagte Sofuoglu.—

SPD-Politikerin Müntefering: Türkei-Politik auch Fall für die Nato

Die SPD-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe, Michelle Müntefering, unterstützt die von der Bundesregierung angekündigte Neuausrichtung der Türkei-Politik. Es sei richtig, auch über wirtschaftliche Einschnitte zu sprechen, sagte Müntefering der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Freitagsausgabe). Ferner sei die Verschärfung der Reisehinweise nötig.

„Die Willkür der türkischen Regierung kann prinzipiell jeden treffen“, sagte die SPD-Politikerin. Sie appellierte an die Nato, sich einzuschalten. Die Entwicklung der Türkei betreffe ganz Europa und die Nato-Bündnispartner insgesamt.

Die Festnahme eines deutschen Menschenrechtsaktivisten in Istanbul nannte Müntefering eine weitere Eskalationsstufe in den Beziehungen zur Türkei. „Wenn deutsche Staatsbürger und andere Europäer unter fadenscheinigen Gründen gefangengenommen werden oder wenn Parlamentariern der Besuch von Bundeswehr-Standorten untersagt wird, dann sind das schwerwiegende Vorgänge“, erklärte die Parlamentarierin. Die türkische Regierung führe das Land immer weiter weg von Europa und in die Isolation.

Lambsdorff: Türkei-Politik der Großen Koalition gescheitert

Der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), hält die Türkei-Politik der Großen Koalition für „krachend gescheitert“. „Das Manöver von Außenminister Gabriel ist als klares Eingeständnis zu werten“, sagte das FDP-Präsidiumsmitglied am Donnerstag. Die Bundesregierung habe sich viel zu spät dazu entschieden, konkrete Schritte zu unternehmen.

„Wohlmeinende Reisehinweise reichen aber längst nicht aus“, so Lambsdorff. Die FDP spreche sich erneut dafür aus, dass die EU-Beitrittsverhandlungen mit sofortiger Wirkung zu beenden seien. „Kanzlerin Merkel und Außenminister Gabriel müssen sich umgehend dafür einsetzen, gemeinsam mit den europäischen Partnern wirksame Maßnahmen zu ergreifen“, sagte der FDP-Spitzenpolitiker.

Autor: dts