Köln | Gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern 15 weiterer Städte hat Kölns Oberbürgermeister Jürgen Roters einen Forderungskatalog zur Armutszuwanderung formuliert, der an die Parteivorsitzenden von CDU/CSU und SPD gerichtet ist. Darin fordern die betroffenen Kommunen aus verschiedenen Bundesländern von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer eine finanzielle Soforthilfe, um durch Zuwanderung aus Südost-Europa auftretende Probleme bewältigen zu können. Die schwierige Situation der Städte müsse bei den Koalitionsverhandlungen auch auf Bundesebene berücksichtigt werden, so die Unterzeichner des Katalogs.

Da es sich um ein bundesweites Problem handle sei es notwendig, so OB Roters, dass man die Verantwortlichen in Berlin noch einmal ganz eindrücklich auf die Probleme der Städte hinweise. „Wir sind das letzte Glied in der Kette und müssen uns um die Menschen vor Ort kümmern. Das stellt die Kommunen vor erhebliche finanzielle Probleme. Wir erwarten deshalb zügig verstärkte Unterstützung vom Bund und von Europa.“, so Roters weiter.

In dem Brief beschreiben die 15 Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister sowie ein Stadtrat ausführlich die Situation in ihren Städten, die im Rahmen der EU-Ost- Erweiterung und der Arbeitnehmerfreizügigkeit entstanden sei. Die Unterzeichner des Briefes fordern die neue Bundesregierung auf, dass die Herausforderung der Armutszuwanderung mit einer Größenordnung von mehreren zehntausend betroffenen Menschen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe anerkannt wird, dass Bund und Europäische Union (EU) die Verantwortung der Herkunftsländer für die Verbesserung der Lebensverhältnisse von Zuwandernden einfordern und diese Länder dabei unterstützen.

Der Bund solle sich gegenüber der EU dafür einsetzen, dass Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) flexibler genutzt und in den Herkunfts- und Zielländern der Armutszuwanderung eingesetzt werden können. Vor allem fordern die Städte aber, dass der Bund Soforthilfe leistet: mit ESF-finanzierten Bundesprogrammen, einer ausreichenden Ausstattung und Aufstockung von Programmen.

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Hier das Schreiben in Original-Wortlaut:

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,
sehr geehrter Herr Gabriel,
sehr geehrter Herr Seehofer,

die europäische Einigung, die EU-Osterweiterung und die Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger sind Meilensteine in der politischen und ökonomischen Entwicklung Europas. Als Vertreterinnen und Vertreter von Städten, in denen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Nationalität seit vielen Jahrzehnten zusammenleben, wissen wir um den hohen Wert dieser Entwicklung. Sie trägt gerade auch in Deutschland entscheidend zuWohlstand, Prosperität und Wettbewerbsfähigkeit bei.

Gleichwohl verbinden sich mit der europäischen Integration auch weitreichende ökonomische und gesellschaftliche Herausforderungen. So haben durch die Osterweiterung die Einkommens- und sozialen Unterschiede in der EU erheblich zugenommen. Dies führt zu einer verstärkten und im Rahmen der Arbeit nehmerfreizügigkeit weiter wachsenden Mobilität. Gerade aus Bulgarien und Rumänien kommen viele Menschen in unsere Städte und Gemeinden, weil sie hier Arbeit suchen und sich ein besseres Leben aufbauen wollen. Sie kommen, um längerfristig zu bleiben und nehmen damit ihre Rechte als Unionsbürgerinnen und -bürger in Anspruch. Dabei leisten sie aufgrund ihrer Qualifikation und ihres Integrationswillens vielfach einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung.

Zugleich aber verzeichnen wir aus diesen Ländern einen seit mehreren Jahren anhaltenden und sich aktuell verstärkenden Zuzug von Menschen, die aus prekären Verhältnissen stammend auch hierzulande unter prekären Bedingungen leben. Sie gehören sozialen und ethnischen Gruppen an, die in ihren Herkunftsländern benachteiligt, ausgegrenzt und i. T. Opfer rassistischer Diskriminierung sind. Ihre Motivation, nach Deutschland zu kommen und längerfristig bleiben zu wollen, ist vor diesem Hintergrund verständlich.

Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sie häufig Opfer von kriminellen Strukturen werden, die ihre Notlage ausnutzen. Vielmehr führtdas nur zu verfestigten Abhängigkeiten in abgegrenzten sozialen Zusammenhängen, die eine Integration erschweren und das Konfliktpotenzial im direkten Umfeld erhöhen. Hieraus resultieren Probleme, die für die betroffenen Kommunen eine völlig neue Qualität haben. Viele der zuziehenden Menschen gehen keiner geregelten Erwerbsarbeit nach und haben, abgesehen vom regelmäßigen Kindergeldbezug, kein ausreichendes Familieneinkommen. Meist ist auch ihr Krankenversicherungsschutz nicht geregelt. Nur wenige kommen mit den Regularien und Vertragsangelegenheiten rund um ein Miet- oder Arbeitsverhältnis zurecht, kennen Versorgungsv erträge, Hausordnungen oder Gepflogenheiten im nachbarschaftlichen Miteinander.

Vielerorts ist daher eine Situation entstanden, die die Nachbarschaften völlig überfordert und die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Kommunen übersteigt. Hinzukommt, dass häufig Städte und Gemeinden besonders betroffen sind, die ohnehin unter schweren finanziellen Problemen leiden. Auch wenn es regionale und lokale Schwerpunkte gibt, kann die Problemlösung deshalb nicht einfach dorthin delegiert werden. Denn die Ursachen sind letztlich im europäischen Kontext zu suchen und die Auswirkungen gehen inzwischen weit über einzelne betroffene Städte hinaus. Die Gefährdung des sozialen Friedens vor Ort wird medial weitervermittelt und beeinflusst gesamtgesellschaftliche Wahrnehmungen. Zudem gibt es vermehrt Anzeichen dafür, dass rechtsextreme und fremdenfeindliche Kräfte dieses Thema aufgreifen und instrumentalisieren.

Nachdem diese Entwicklung von Bund, Ländern und der europäischen Politik lange ignoriert wurde, stößt sie inzwischen auf ein verstärktes mediales und politisches Interesse. Auch die kommunalen Spitzenverbände haben darauf wiederholt aufmerksam gemacht. Wie der Kreis der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dokumentiert, sehen sich inzwischen Kommunen im ganzen Bundesgebiet betroffen. Deshalb ist seitens des Bundes und der Länder, aber ebenso von der europäischen Politik zügiges Handeln erforderlich, um die Situation in den Herkunftsländern zu verbessern und hierzulande die Kommunen bei der Bewältigung sozialer und integrativer Herausforderungen zu unterstützen – im Sinne der neu zuwandernden wie auch der bereits hier lebenden Menschen. Die von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Armutszuwanderung aus Osteuropa“ vorgeschlagenen Maßnahmen müssen deshalb zügig umgesetzt werden. Wichtig ist vor allem,

•dass die Herausforderung der Armutszuwanderung mit einer Größenordnung von mehreren zehntausend betroffenen Menschen endlich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe anerkannt und als solche adressiert wird;

•dass Bund und EU die Verantwortung der Herkunftsländer für die Verbesserung der Lebensverhältnisse von Zuwandernden einfordern und diese Länder dabei unterstützen;

•dass sich der Bund gegenüber der EU dafür einsetzt, dass Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) flexibler genutzt und in den Herkunfts- und Zielländern der Armutszuwanderung eingesetzt werden können;

•dass der Bund Soforthilfe leistet: mit ESF-finanzierten Bundesprogrammen, einer ausreichenden Ausstattung bzw. Aufstockung von Programmen wie dem Programm „Soziale Stadt“, einem die erhöhten Sozialausgaben deckenden Lastenausgleich zugunsten betroffener Kommunen, Sprachkursen sowie erhöhten Eingliederungsmitteln und Personalkapazitäten im SGB II;

•dass ordnungsrechtliche Maßnahmen geprüft und umgesetzt werden, wo Leistungsmissbrauch, kriminelle Strukturen und Ausbeutung Integration behindern und zulasten der Zuwandernden selbst gehen. Wir möchten Sie mit diesem Schreiben nachdrücklich darum bitten, die geschilderten Probleme und Maßnahmen zügig in Angriff zu nehmen und im Rahmen der derzeit geführten Verhandlungen zur Bildung einer Regierungskoalition auf Bundesebene zu berücksichtigen. Dabei geht es wie gesagt nicht darum, kommunale Einzelphänomene oder örtliche Sonderprobleme zu lösen, sondern das absehbare Resultat europäischer Entwicklungen zu bewältigen. Umso mehr entsprechen gesamtstaatliche Anstrengungen der gegebenen europapolitischen Verantwortung des Bundes und der Länder. Sie stellen einen notwendigen Beitrag zur Akzeptanz und zum Gelingen der Europäischen Integration dar.

Der Brief trägt die Unterschriften der Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister der Städte Bochum, Delmenhorst, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Hannover, Hamm, Herne, Hof, Köln, Mannheim, Mülheim a.d.R., Münster, Nürnberg und Regensburg, sowie eines Ratsmitgliedes der Stadt Offenbach.

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Autor: dd
Foto: Kölns Oberbürgermeister Jürgen Roters und Vertreter 15 weiterer deutschen Städte haben ein Schreiben an die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD verfasst, in dem sie auf ihre Situation aufgrund von Zuzügen aus Südost-Europa hinweisen und Hilfe einfordern.