Köln | Die Alevitische Gemeinde Deutschland hat für den morgigen Samstag zu einer Großdemonstration auf dem Kölner Heumarkt aufgerufen und erwartet 30.000 Teilnehmer. Auch der Kölner Bundestagsabgeordnete Volker Beck von den Grünen hat seine Teilnahme angekündigt. Mit Volker Beck sprach report-k.de am heutigen Nachmittag. Lesen Sie hier das Interview. Einen Link zu allen Infos zu der Demonstration und den Aufruf der Alevitischen Gemeinde finden Sie am Ende des Interviews.

report-k.de: Herr Beck, Sie beteiligen sich als Kölner Bundestagsabgeordneter an der Großkundgebung „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in der Türkei, auch die stummen Proteste ein?

Volker Beck: Die Türkei befindet sich derzeit in einem demokratischen und grundrechtlichen Fiasko. Wenn Gasgranaten in Menschenmengen und Gummigeschosse gezielt auf friedliche Demonstranten geschossen werden, hat dies nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun. Die neue Protestform des stummen Protests finde ich einerseits spannend, andererseits erschreckt es mich, dass sich die Menschen nicht mehr trauen, den Mund aufzumachen. Dies sollte selbst Herrn Erdogan zu denken geben.

Kann man von außen einschätzen, ob es in der Türkei, je nachdem wo man sich befindet eine unterschiedliche Sicht auf die Proteste gibt, also große Unterschiede zwischen den ländlichen Regionen, der Stadt Istanbul und den Regionen an der Mittelmeerküste?

Die Zentren politischen Protests liegen fast immer in den Metropolen. Weil dort die meisten Menschen wohnen, aber auch weil dort die politischen Entscheidungen getroffen werden, gegen die demonstriert wird und dort politische Informationen breit verfügbar sind. Das war im arabischen Frühling so und wäre auch in Deutschland nicht anders. Auch wir kommen ja in Köln in einer Metropole zusammen.

Eine Forderung die immer lauter wird, auch der Kundgebung in Köln, ist unter anderem der Rücktritt von Ministerpräsident Erdogan. Halten Sie dies für eine realistische Forderung?

Ob diese Forderung realistisch ist, kann ich kaum beurteilen. Dazu fehlen mir vertiefte Kenntnisse über die Zustände innerhalb der Regierungspartei AKP. Mir geht es jedoch nicht um den Sturz oder den Wechsel von Regierungen. Was wirklich zählt ist die Verbesserung der Lebensumstände und – konkret auf die Türkei bezogen – der Rechtsstaatlichkeit. Erdogan hat in den vergangenen Jahren bewiesen, dass er über so manchen Schatten springen kann. Und sei es nur aus rationalem Kalkül. Etwa in der Kurdenfrage. Eine Verbesserung der Situation muss kommen – mit oder ohne Erdogan.

Wenn Erdogan zurücktreten würde, wie würden Sie die Stabilität der politischen Lage in der Türkei einschätzen und wer könnte an seiner Stelle eine Machtoption haben?

Stabilität ist es auch nicht, wenn die Polizei ihre Bürgerinnen und Bürger mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen traktiert. Natürlich ist die Türkei ein sicherheitspolitischer Anker in der Region. In der Frage der Aufnahme syrischer Flüchtlinge nimmt sie auch nach wie vor eine sehr gute Rolle ein.

Glauben Sie das Europa und der geplante Beitritt der Türkei, eine mässigende Wirkung und Einfluss auf die bisherigen Politik der Härte haben kann und die Türkei zu einem innenpolitischen Dialog zurückfindet, auch mit Erdogan?

Selbstverständlich hat die EU einen demokratisierenden Effekt. Das ist ihre grundlegende und ureigenste Aufgabe. Dazu ist sie gegründet worden. Das wird nur mittlerweile leider gelegentlich vergessen. Die EU-Beitrittsverhandlungen sind eine Chance zur Stärkung der türkischen Demokratie. Leider haben es CDU und CSU geschafft, von Deutschland aus die Beitrittsverhandlungen Europas mit der Türkei so lange zu blockieren, dass wir nun derzeit fast mit leeren Händen da stehen. Es wäre viel gewonnen, wenn wir schon längst mit Erdogan über Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Justiz, Religionsfreiheit und Menschenrechte diskutiert hätten. Ich wage zu behaupten, dass die Ereignisse der vergangenen Wochen dann anders verlaufen wären.

Oder sollte Europa den Dialog über den Beitritt aussetzen, so lange die innenpolitische Lage instabil ist und Demokratie- und Menschenrechte nicht eingehalten werden?

Das wäre der vollkommen falsche Weg. Die EU-Beitrittsverhandlungen geben den Demonstrierenden auf dem Taksim und in der gesamten Türkei Hoffnung und Motivation. Anstatt die Verhandlungen zu blockieren, sollte die Bundesregierung besser darauf dringen, zügig zu den Kapiteln über Rechtsstaatlichkeit und Justiz zu kommen. Und ein gebrochenes Versprechen wäre der Abbruch der Beitrittsverhandlungen obendrein. Schade, dass man ausgerechnet Politiker an so etwas erinnern muss, die sich selber gerne wertkonservativ nennen.

Glauben Sie an ein baldiges Ende der Auseinandersetzungen oder einen langwierigen innenpolitischen Konflikt in der Türkei?

In der Türkei gibt es noch viel zu bewegen. Bei Menschenrechtsthemen wie der Meinungs- und Pressefreiheit aber auch etwa der Religionsfreiheit. Zusätzlich müssen nun die Verletzungen aufgearbeitet werden, die das Land nach den völlig überzogenen Polizeieinsätzen des vergangenen Wochenendes erlitten hat. Wie lange so etwas dauern kann, haben wir hier in Deutschland mit den anhaltenden Debatten über den Polizeieinsatz bei „Stuttgart 21“ gesehen. Ich hielte es aber auch nicht für sinnvoll, möglichst schnell so tun zu wollen, als sei wieder alles gut. Der Weg zu mehr Rechtsstaatlichkeit ist immer lang. Wir Europäer sollten die Türkei auf diesem Weg unterstützen. Klar ist aber: Bei den Fragen nach Bürgerrechten darf es für Erdogan keinen Rabatt geben

Gibt es ein Stimmungsbild der türkischen Migrantinnen in Köln zur Situation in Kölns Partnerstadt Istanbul? Schließlich war Erdogan in der Lanxess Arena, wo er vor Assimilation warnte und in Düsseldorf, bei seinem umstrittenen Wahlkampfauftritt wo er überdeutlich zu verstehen gab, wem nach seiner Auffassung die in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken gehörten: Das sind meine Leute. Nicht Eure.“

Natürlich gibt es auch unter den hier lebenden Türkinnen und Türken sowie den Deutschen mit türkischen Wurzeln unterschiedliche Meinungen. Das ist ja vollkommen legitim. Anhängerinnenund Anhänger Erdogans gibt es in Köln genauso wie in Ankara, Istanbul und Izmir. Aus vielen Gesprächen kenne ich zwei unterschiedliche Stimmungen: Einerseits diejenigen, denen unser Leben in Deutschland und das hiesige Verständnis von Rechtsstaatlichkeit so in Fleisch und Blut übergangen ist, dass sie Erdogans harte Hand völlig ablehnen. Auch weil sie von Verwandten und Freunden in der Türkei hören, wie es dort zuweilen ist. Andererseits diejenigen, die aus der Ferne in erster Linie den wirtschaftlichen Aufstieg der Türkei betrachten und sich freuen, wenn sie im Urlaub in ein prosperierendes Land kommen. Ich finde es gut, dass hier in Deutschland beide Seite vollkommen konfliktfrei miteinander diskutieren können.

Herr Beck, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Den Aufruf der Alevitischen Gemeinde und alle Infos zur morgigen Großkundgebung auf dem Heumarkt finden Sie hier bei report-k.de

Autor: Andi Goral
Foto: Volker Beck, MdB