Köln | Die Universität Würzburg untersucht Qualitätsbedingungen schulischer Inklusion und gibt Empfehlungen ab. Unter anderem wurde herausgearbeitet, dass Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit körperlichen und mehrfachen Behinderungen möglich ist, wenn die notwendigen Voraussetzungen an Schulen geschaffen werden. Als sinnvoll für die sonderpädagogische Förderung sei unter anderem Lernangeboten, die auf die Unterschiedlichkeit der Kinder eingehen und damit verbunden Möglichkeit zur Qualifizierung im Bereich Differenzierung. Darüber hinaus sollte, wenn möglich, im Zwei-Pädagogen-System gearbeitet werden.

Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) hat heute in Köln die Ergebnisse eines international einmaligen Forschungsprojekts zur schulischen Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Körper- oder Mehrfachbehinderungen vorgestellt. Auch NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann nahm an der Fachtagung teil und unterstrich die Bedeutung der wissenschaftlichen Begleitung inklusiver Schulentwicklung. Reinhard Lelgemann von der Universität Würzburg hatte im Auftrag des LVR über zwei Jahre mit seinem Forschungsteam die Qualitätsbedingungen des gemeinsamen Lernens von Schülerinnen und Schülern mit und ohne körperliche und mehrfache Behinderung untersucht.

Für die Studie hat das Team über 4.000 Schülerinnen und Schüler, deren Eltern, Schulleitungen und Lehrkräfte von Förderschulen, integrativ arbeitenden Schulen sowie von 19 allgemeinen Schulen befragt. Außerdem haben die Wissenschaftler im Rahmen einer qualitativen Studie über 80 Einzel-Interviews geführt und eine umfangreiche internationale Literaturrecherche vorgelegt.

Lernangebote müssen die Unterschiedlichkeit berücksichtigen

„Eines der zentralen Ergebnisse unserer Untersuchung ist, dass gemeinsamer Unterricht für viele Kinder und Jugendliche mit körperlichen Beeinträchtigungen möglich ist und von vielen Beteiligten als positiv bewertet wird“, sagt Lelgemann. Damit Inklusion in der Schule gelingt, müsse jedoch an jedem schulischen Lern- und Förderort ein bestmögliches schulisches Bildungsangebot abgesichert werden, das die Unterschiedlichkeit der Schülerschaft berücksichtigt, so Lelgemann weiter. Hierzu gehören nach Auffassung der Würzburger Forscher drei Dimensionen: Haltung, Schulklima und sozial-kommunikative Dimension, die personelle und schulorganisatorische Dimension sowie die unterrichtliche Dimension.

„Wichtig ist es, in einem ersten Schritt eine konzeptionelle Verständigung zwischen allen am Schulleben beteiligten Personen darüber zu erreichen, dass Schülerinnen und Schüler mit Behinderung aufgenommen werden sollen. Wir brauchen also eine möglichst breite Zustimmung der gesamten Schule“, erklärt Lelgemann. Weiter gelte es, die soziale Situation und die Unterstützungsbedürfnisse von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung besonders zu beachten. Das ist die Grundlage, damit sich alle Schülerinnen und Schüler untereinander austauschen können. „Außerdem sollte mit dem Thema Behinderung und Nachteilsausgleich offen und taktvoll umgegangen werden“, so Lelgemann weiter.

Zwei-Pädagogen-System sinnvoll

Mit Blick auf die personelle und organisatorische Dimension an Schulen kommt die Würzburger Forschungsgruppe zu klaren Empfehlungen: Möglichst viele Lerngruppen sollten, wenn dies erforderlich ist, im Zwei-Pädagogen-System unterrichtet werden. Sonderpädagogische Lehrkräfte sollten außerdem im Idealfall dauerhaft und mit allen Stunden an der Schule eingesetzt werden. Die Lehrerrolle verändere sich ebenso durch Kooperationen mit therapeutischen oder auch pflegerischen Fachkräften. In diesem Zusammenhang plädieren die Wissenschaftler für die Fortbildung von Lehrkräften an allgemeinen Schulen. „Personal und Organisation sind zwei Bereiche, in denen noch viele Veränderungen notwendig sind, um das gemeinsame Lernen sinnvoll zu etablieren“, sagt Lelgemann. „Auch die Reduzierung der Klassengrößen auf maximal 24 Schülerinnen und Schüler, die Entwicklung von barrierefreier Architektur und die Einrichtung von therapeutischen sowie pflegerischen Angeboten gehören zu dieser Dimension der inklusiven Schulentwicklung“, fordert Lelgemann weiter. Der Bildungsauftrag für Menschen mit Behinderung in der allgemeinen Schule erfordere zusätzliche Zeitressourcen für Zusammenarbeit und adaptive Unterstützungssysteme.

Differenzierung als wichtigster Faktor

Für die unterrichtliche Dimension schulischer Inklusion sieht das Forschungsteam vor allem Differenzierung als notwendig an: Differenzierende Unterrichtsmethoden, Weiterqualifizierung im Bereich Differenzierung und differenzierende Beurteilungsmöglichkeiten seien erforderlich, um den unterschiedlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden. Auch Sensibilität gegenüber Fragestellungen, die sich aus der Behinderung der Kinder und Jugendlichen ergeben, sei gefordert. Schulische Bildung müsse sich in diesem Sinne um die leistungsbezogenen, sozialen und rehabilitativen Bedürfnisse der Schülerschaft kümmern und beispielsweise Besonderheiten bei der Berufswahl, der individuellen Lebensgestaltung und der sozialen Teilhabe im Blick behalten.

Beibehaltung von Förderschulen in ausgewählten Bereichen sinnvoll

Weitere Ergebnisse der Befragung sind, dass etwa die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer an Förderschulen in unterschiedlichem Zeitumfang dazu bereit wäre, an einer inklusiven Schule zu arbeiten und Schüler mit diesem Förderbedarf zu begleiten. Viele sonderpädagogische Lehrkräfte könnten sich auch die Öffnung der Förderschule für nicht behinderte Kinder vorstellen. Zudem wünschen sich viele Eltern und Schüler an Förderschulen ein inklusives schulisches Bildungsangebot, unter der Voraussetzung, dass die allgemeinen Schulen entsprechend ausgestattet werden. Bei einigen Eltern und Lehrkräften aller Schulformen besteht indes eine Unsicherheit mit Blick auf Schülerinnen und Schüler mit mehrfachen Beeinträchtigungen. Sie sprechen sich aus diesem Grund für die Beibehaltung der Förderschulen mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung aus.

Dass die LVR-Studie auch landespolitisch auf Interesse stößt, zeigte die Teilnahme von NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann an der Fachtagung. Sie umriss die nun anstehenden Maßnahmen zur Umsetzung der Inklusion: „Der Prozess kann nur gelingen, wenn er konsequent, sorgfältig und zielführend Schritt für Schritt gegangen wird. Wir werden den Weg über Schwerpunktschulen und ,Vorreiterschulen‘ in der Region gehen. Als gute Beispiele werden sie auch andere Schulen ermutigen, sich auf den Weg zu machen. Dabei sind alle Beteiligten gefordert, ihre Kompetenzen und Leistungen zu vernetzen und weiterzuentwickeln.“ Es gibt viele Übereinstimmungen der Studie mit den bildungspolitischen Vorstellungen Nordrhein-Westfalens, so Löhrmann weiter: „Aufgabe der Schulentwicklung ist die Förderung einer inklusionsfreundlichen Haltung in den Köpfen aller Beteiligten. Das konkrete Finanzierungskonzept, über das sich das Kabinett in Kürze verständigen wird, schafft die Grundlage für die geforderte Sicherheit im personellen und organisatorischen Bereich. Zudem haben wir bereits erste Maßnahmen in die Wege geleitet, um die speziellen fachlich-professionellen Kompetenzen der Lehrkräfte zu unterstützen.“

LVR-Direktorin Ulrike Lubek betonte die große Relevanz der Studie für den LVR als bundesweit größtem Träger von Förderschulen. „Natürlich stellen wir uns die Frage, was der LVR zu einer inklusiven Schulentwicklung beitragen kann. Schon seit einigen Jahren bieten wir zum Beispiel mit der Inklusionspauschale ein Instrument an, das Kindern und Jugendlichen mit Sinnesschädigungen oder körperlichen Behinderungen den Besuch einer allgemeinen Schule ermöglicht“, so Lubek. „Die Studie der Universität Würzburg liefert uns Zahlen und Empfehlungen, wie wir unserem Ziel einer inklusiven Gesellschaft ein Stück näher kommen können. Wir werden uns mit den Ergebnissen der Forschungsgruppe intensiv auseinandersetzen und sie bei unseren weiteren Planungen berücksichtigen“, so Lubek weiter.
verbessern kann. 

Autor: hh
Foto: Manfred Jahreis  / pixelio.de