Halle (Saale) | Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina empfiehlt, die wegen der Coronakrise geschlossenen Bildungseinrichtungen möglichst schnell wiederzueröffnen. Dies solle „schrittweise und nach Jahrgangsstufen differenziert“ geschehen, heißt es in einer Stellungnahme der Wissenschaftler, die am Montag veröffentlicht wurde. Die Wiedereröffnung der Bildungseinrichtungen sollte „sobald wie irgendmöglich“ erfolgen.

Dabei müssten die jeweiligen Gegebenheiten in den einzelnen Bildungseinrichtungen berücksichtigt werden. Alle Maßnahmen seien auf längere Zeit unter Einhaltung der Vorgaben zu Hygiene, Abstand, Mund-Nasen-Schutz, Testung und die Konsequenz der Quarantäne umzusetzen. „Für eine längere Übergangszeit wird gelten, dass eingeschränkte, wenn auch schrittweise erweiterte Formen von Betreuung und Unterricht akzeptiert werden müssen, um das weiterhin erhebliche Ansteckungsrisiko zu reduzieren“, so die Forscher.

Bei der Öffnung der Grundschulen sollte den Wissenschaftlern zufolge mit den Kindern in den Abschlussklassen der Primarstufe begonnen werden, „damit sie auf den Übergang in die weiterführenden Schulen vorbereitet werden können“. Die vorangehenden Jahrgangsstufen sollen stufenweise folgen. Im Bereich der Kindergärten und Kindertagesstätten sollte dieser Logik entsprechend zunächst ein Regelbetrieb mit reduzierten Gruppengrößen am Übergang zur Grundschule stattfinden, heißt es weiter.

In Bildungsgängen, in denen am Ende der Sekundarstufe I zentrale Abschlussprüfungen stattfinden, sollte der Schulbetrieb zunächst in jenen Jahrgangsstufen aufgenommen werden, die vor dem Abschluss stehen, so die Leopoldina. Bei allen weiteren Jahrgängen sei ein gestuftes Vorgehen mit reduzierter Stundenzahl und mit Konzentration auf die Kernfächer (Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen) zu empfehlen. An den Universitäten und Hochschulen sollte das Sommersemester nach Ansicht der Forscher weitgehend als online/home-learning-Semester zu Ende geführt werden. Generell gelte es, die Prüfungsmöglichkeiten auf allen Bildungsetappen aufrechtzuerhalten.

Lehrerverband: Millionen Schüler durch Schulschließungen abgehängt

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, sieht durch die Schulschließungen der vergangenen Wochen mehrere Millionen Schüler abgehängt und fordert für diese Gruppe eine frühe Lockerung der Corona-Regelungen. „Ich fürchte, dass bis zu ein Viertel aller Schüler in den vergangenen Wochen von jenen, die andere Voraussetzungen hatten, abgehängt wurde“, sagte Meidinger der „Welt“ (Dienstagsausgabe). „Dieses Viertel dürfte keine oder nur eine sehr eingeschränkte Beschulung erhalten haben. Die Schere ist in den letzten Wochen zweifelsohne weiter auseinander gegangen.“ Es gehe etwa um Kinder mit schlechten Deutschkenntnissen, aus schwierigen sozialen Verhältnissen und ohne ausreichende technische Ausstattung. Der Bildungsrückstand für diese rund drei Millionen Mädchen und Jungen wiege immer schwerer, je länger das Homeschooling andauere, warnte Meidinger.

Um diese Gruppe müsse man sich verstärkt kümmern. „Es ist eine der dringlichsten Aufgaben der Bildungspolitik zu verhindern, dass die Schulschließungen dazu führen, dass wir eine ganze Generation bekommen, deren Schullaufbahn dauerhaft gefährdet ist“, so Meidinger. „Eine Möglichkeit wäre, diese Gruppe bei Öffnung der Schulen vorrangig zu behandeln. Bevor also alle Schüler wieder unterrichtet werden, könnte man mit ihnen zunächst Versäumtes nacharbeiten.“ Darüber hinaus müssten Zusatzangebote für diese Gruppe geschaffen werden, wenn der reguläre Unterricht wieder laufe – Förderkurse, vielleicht Ganztagsangebote. „Und schließlich sind auch aufholende Beschulungsangebote in den Ferien denkbar. Die Politik muss diese Angebote dann so gestalten, dass sie auch wahrgenommen werden“, forderte der Lehrerverbandspräsident. Meidinger wandte sich gegen ein zeitgleiches Vorgehen aller Bundesländer beim Hochfahren des Schulbetriebs: Bei allem Willen zu einheitlichem Vorgehen dürfe nicht übersehen werden, dass es Länder gebe, in denen das Schuljahr schon im Juni endet, und andere, in denen noch bis Ende Juli Unterricht stattfindet. „Das ergibt sich aus dem gestaffelten Beginn der Sommerferien. Darauf muss man auch Rücksicht nehmen“, so Meidinger. „Die Schulen wurden zwar mehr oder minder überall gleichzeitig geschlossen, ich halte es jedoch für möglich und angemessen, dass man sie je nach Betroffenheit eines Landes durch das Infektionsgeschehen und mit Blick auf die Dauer des Schuljahrs zu unterschiedlichen Zeitpunkten wieder öffnet. Zunächst könnten die Abschlussklassen zurück an die Schulen oder auch die Schüler mit besonderem Förderbedarf und dann schrittweise alle.“

Autor: dts