Oberhausen | Konzentriert blickt Marlies Smolka auf die meterlange Wand mit zahlreichen Lämpchen, die die Weichenstellungen und Signale der Schienen im Ruhrgebiet zeigen. Mit dem Druck auf einen der grauen Knöpfe vor ihr im Stellwerk Oberhausen leitet die 49-Jährige Züge auf das richtige Gleis oder sperrt eine Strecke. Die frühere Schlecker-Mitarbeiterin ist eine von 14 Frauen, die die Deutsche Bahn für ein Pilotprojekt im Schnelldurchgang für die Arbeit als Fahrdienstleiter oder Weichensteller ausbildet.

Fast zehn Jahre hatte Smolka bei Schlecker als Filialleiterin in Duisburg gearbeitet, als sie im Januar 2012 die schockierende Nachricht von der Insolvenz bekam und später auch ihre Filiale aufgelöst wurde. „Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen“, erzählt die selbstbewusste Frau mit den kurzen, gestylten braunen Haaren und auffälligem Silberschmuck. Sie sucht nach einer anderen Arbeit, an die 100 Bewerbungen schickt sie, ebenso viele Absagen kommen zurück. „Mit jeder Absage wurde das Selbstwertgefühl weniger“, berichtet die verheiratete Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Wenn sie damals auf die Drogeriekette angesprochen wurde, habe sie angefangen zu weinen. „Man hat ja wirklich nur für Schlecker gelebt.“

Bahn will beliebter Arbeitgeber werden

Dann kam ein Brief von der Agentur für Arbeit mit der Einladung zu einem Infotag der Deutsche Bahn. Im Mittelpunkt stand die Ausbildung zu Fahrdienstleitern und Weichenwärtern. Die sind dafür verantwortlich, dass Züge auf die richtigen Gleise geleitet werden und der Bahnverkehr so reibungslos wie möglich läuft. „Am Anfang habe ich das für ein Versehen gehalten“, schmunzelt Smolka. Sie sei schließlich kein Zuglotse, sondern aus dem Verkauf, habe sie ihrem Mann gesagt. Trotzdem geht sie hin, lässt sich das Stellwerk zeigen, macht einen psychologischen Eignungstest und wird genommen. In zwei Monaten steht die Prüfung zur Weichenwärterin an. „Jeden Tag bekommen wir gesagt, wie wichtig wir sind“, strahlt sie heute.

Für die Bahn hat das Projekt nur bedingt mit sozialer Verantwortung zu tun, sagt der Konzernbevollmächtiger für das Land NRW, Reiner Latsch. „Eines der wichtigsten Ziele ist, dass wir im Jahr 2020 zu den Top 10 Arbeitgebern in Deutschland gehören wollen“, sagt er. Das Unternehmen habe vor dem Hintergrund des demografischen Wandels Nachholbedarf und wolle Mitarbeiter langfristig an sich binden. „31.000 Mitarbeiter haben wir in NRW heute, bis 2020 wollen wir 10.000 neue Mitarbeiter einstellen“, kündigt er an. Pro Jahr brauche die Bahn etwa 50 neue Fahrdienstleiter in Nordrhein-Westfalen. Dafür müsse das Unternehmen neue Wege gehen, dazu gehöre eben auch das Projekt mit den früheren Schlecker-Mitarbeiterinnen.

Die verkürzte Ausbildung zum Weichenwärter dauert vier Monate, die zum Fahrdienstleiter sieben. Normalerweise sind es zweieinhalb Jahre. „Die Besonderheit ist, dass die Mitarbeiterinnen auf einem bestimmten Stellwerktyp eingesetzt werden und nur dort arbeiten werden“, sagt Latsch. Dieser Typ ist in Bereichen mit einfacher Infrastruktur zu finden, wo sich nicht viele Gleise kreuzen oder wenige Züge unterwegs sind. Ursprünglich hatten sich 40 frühere Schlecker-Mitarbeiterinnen beworben. Nicht jede war aber geeignet, sagt Latsch: „Ein technisches Verständnis ist schon Voraussetzung.“

Frauen sind besonders engagiert

Gabriele Tekath hat 14 Jahre lang als stellvertretende Filialleiterin in Duisburg gearbeitet. Ausgerechnet an ihrem Geburtstag kam für die große blonde Frau mit dem Fransenpony die Kündigung. „Ich bin Alleinverdienerin“, erzählt die Mutter einer Tochter. Rund 80 Bewerbungen schreibt sie, allerdings keine an die Bahn. „Das wäre mir nie in den Sinn gekommen“, sagt die Einzelhandelskauffrau. Nach einer Zeit mit vielen Absagen und unterbezahlten Jobangeboten ist jetzt ihre größte Sorge die Abschlussprüfung im März. „So einfach ist das nicht mit dem Lernen in diesem Alter“, stellt die 51-Jährige fest.

Für die Bahn sind die mit beiden Beinen im Leben stehenden Schlecker-Frauen ein Glücksfall. „Sie sind erheblich verantwortungsbewusster als andere Auszubildende“, berichtet ihr Ausbildungsleiter Marc Loose. „Man merkt, dass sie 20 Jahre lang ein Geschäft geleitet haben.“ Er berichtet auch, dass es bei langjährigen Mitarbeitern zunächst auf Kritik stieß, dass die Frauen nach einer so kurzen Ausbildung im Stellwerk arbeiten sollen. Das sei aber inzwischen kein Thema mehr.

Die Idee zum Einsatz der früheren Schlecker-Mitarbeiterinnen war ursprünglich mal ein Spaß unter Kollegen bei der Bahn, erzählt er. Als die Insolvenz kam, sei immer wieder darüber gescherzt worden, diese Frauen einzustellen. „Dann haben wir irgendwann gesagt, dann lass uns die doch wirklich nehmen.“

Im Mai soll nach Angaben von Latsch ein zweiter Kurs mit ehemaligen Schlecker-Mitarbeitern beginnen, auch 2014 ist schon einer geplant. Das Gehalt liegt laut Bahn auf dem Lohnniveau einer Filialleiterin der aufgelösten Drogeriekette. Weichenwärter verdienen demnach 2.008 Euro brutto, für Fahrdienstleiter sind es 2.127 Euro. Mit dem Pilotprojekt erhalten allerdings nur ein Bruchteil der gekündigten Schlecker-Beschäftigten einen neuen Job. Insgesamt verloren 4.759 Männer und Frauen in NRW nach Angaben der Regionaldirektion der Agentur für Arbeit wegen der Insolvenz ihren Job, 45 Prozent von ihnen sind immer noch ohne Beschäftigung.

Mit dem neuen Job bei der Bahn ist bei den früheren Schlecker-Frauen der Groll gegen den ehemaligen Arbeitgeber verflogen. „Heute muss ich das als Glücksfall ansehen“, bilanziert Smolka. Auch Tekath hat ihr Lächeln wiedergefunden: „Es war vielleicht Schicksal“, sagt sie heute.

Autor: Helena Baers, dapd | Foto: Tim Schulz/dapd
Foto: Claudia Stalder, ehemalige Mitarbeiterin der insolventen Drogeriemarktkette Schlecker, macht in einem Stellwerk der Deutschen Bahn in Oberhausen eine Durchsage.