Kamp-Lintfort | „Dat war mein Leben.“ Bergmann Klaus Deuter sitzt auf einer Holzbank in der gelb gefliesten Kaue und schaut auf den Boden. Über seinem Kopf baumeln an langen Eisenketten Dutzende Körbe mit Arbeitskleidung der Kumpel. Im August 1979 hat Deuter in der Zeche Friedrich Heinrich in Kamp-Lintfort als Lehrling angefangen. Am Freitag (21. Dezember) ist die letzte Grubenfahrt in der Schachtanlage des heutigen Bergwerks West am Niederrhein.

„Vom Kleinsten an der Schüppe bis zum Chef: Hier gab’s kein Befehl und Gehorsam, wir haben immer Hand in Hand gearbeitet“, sagt der 49-Jährige und wischt sich über das Gesicht. Niemand soll seine Rührung sehen.

Fast sein gesamtes Arbeitsleben hat Deuter unter Tage verbracht, in dieser fremden, rauen Welt mehrere Hundert Meter in der Tiefe. Im Pütt, wie die Kumpel sagen. Stockdunkel und heiß ist es dort unten, bis zu 30 Grad Celsius. Und die Luftfeuchtigkeit ist so hoch wie im tropischen Urwald. Heute sind auch hier Computer im Einsatz.

Die Männer arbeiten im Schein der Lampen, bisweilen müssen sie auf dem Bauch durch den Streb, den Abbauort im Kohlebergbau, robben. Insgesamt 20 Jahre lang war Deuter Reviersteiger auf Friedrich Heinrich, bis zu 200 Kumpel hörten auf sein Kommando. Deuter tippt nacheinander mit dem Zeigefinger auf seinen Oberarm, den Kopf und den Brustkorb: „Ein guter Bergmann hat das magische Dreieck: Muckis, Hirn und Herz.“

Gedrückte Stimmung beim Schichtwechsel

Inzwischen ist es 13.00 Uhr, Schichtwechsel am Tor 1 an der Friedrich-Heinrich-Allee. Die Männer der Frühschicht sind mürrisch, nur wenige wollen Fragen beantworten. „Ich bin seit 28 Jahren hier, bin mit dem Bergwerk groß geworden“, sagt Mike Votel. Mit Blick auf Freitag sagt der 44-Jährige: „Im Moment verdrängt man dat wohl.“ Sein Kollege Fevzi Durcan sagt mit trauriger Stimme: „Das ist das Ende, das ist eben das Zechensterben.“

Arbeitslos wird dadurch in Kamp-Lintfort niemand. Rund 1.500 Beschäftigte gibt es noch auf der Zeche. Nach Angaben der RAG Deutsche Steinkohle werden 1.000 Männer auf andere Schachtanlagen verteilt, die anderen 500 gehen in den Vorruhestand. Bedingung: 25 Jahre Arbeit unter Tage und mindestens 50 Jahre alt.

„Mir ist es übel, wenn ich an den Tag X denke. Ich sach immer: Wir werden gegangen“, sagt Roland Orgassa. Der Förderschlosser mit dem dichten, grauen Vollbart kneift die Augen zusammen und geht zu seinem Auto. Noch zwei Tage, dann ist hier Schicht im Schacht, nach 100 Jahren Kohleförderung in Kamp-Lintfort.

Luftlinie 500 Meter entfernt steht Helmut Schön vor einem Zechen-Doppelhaus in der Siedlung östlich des Bergwerks West. Es ist ein Museum, ein Ort des Andenkens an einen sterbenden Beruf. „Solange wir Alten noch am Leben sind, geben wir das weiter“, sagt der 78-Jährige kämpferisch. Er ist Schriftführer der Fördergemeinschaft für Bergmannstradition und hat Sorgen: Das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt bei 65 Jahren.

Schön begann mit 14 Jahren seine Lehre auf Friedrich Heinrich. „Der Pütt war unser Lebensinhalt, alles drehte sich um ihn“, erinnert sich der Rentner. Seine Augen leuchten, wenn er von den Grubenfahrten erzählt: „Du steigst ein, und dann fährt der Korb mit acht Meter pro Sekunde in die Tiefe. Da weißte Bescheid, wie dat abgeht.“

Festakt mit Ministerpräsidentin Kraft

Aber den Strukturwandel kann auch er nicht aufhalten. Wegen der im Vergleich zum Weltmarkt viel zu hohen Förderkosten ist die deutsche Steinkohle nicht wettbewerbsfähig. Die letzten Subventionen laufen 2018 aus. Der Tod eines Berufsstands auf Raten: Nach der letzten Grubenfahrt im Bergwerk West am Freitag bleiben nur noch die Zechen Prosper-Haniel in Bottrop, Auguste Victoria in Marl und Ibbenbüren im Kreis Steinfurt. „Wir haben noch Kohle für 200 Jahre“, sagt der alte Bergmann und schluckt.

Klaus Deuter bereitet den Festakt am Freitag in der Lohnhalle der Schachtanlage vor. Auch Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) wird kommen. „Hannelore kriegt ’nen Kohlebrocken auf ’ner Marmorplatte“, sagt der Steiger leise. Er selbst will kein Andenken an sein Berufsleben mitnehmen: „Wir müssen die Grube noch leerräumen. Ich mache dann hier das Licht aus. So verabschiede ich mich von meinem Bergwerk.“

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InfoVon der Bergarbeiterstadt zum Hochschulstandort – Nach 100 Jahren Kohleförderung schließt die Zeche Friedrich Heinrich – Zeitenwende in Kamp-Lintfort am Niederrhein

Der rot-weiße Förderturm überragt alles in Kamp-Lintfort – die gepflegten Backsteinhäuser und auch die grauen Plattenbauten. Gut 70 Meter ist er hoch, Orientierungspunkt und Symbol. Der Bergbau hat die niederrheinische Stadt groß gemacht. „Wenn ich aus dem Urlaub komme, von der Autobahn fahre, dann sehe ich den Turm und denke, das ist mein Turm“, sagt Klaus Deuter. Der 49-Jährige hat 1979 seine Ausbildung zum Bergmechaniker auf der Zeche Friedrich Heinrich in Kamp-Lintfort begonnen, hat sich zum Reviersteiger hochgearbeitet. Seit zweieinhalb Jahren sitzt er im Betriebsrat des Bergwerks West.

Er ist einer von 1.500 Bergmännern, die in dem Bergwerk arbeiten und einer der 400 Kumpel, die in Kamp-Lintfort leben. Insgesamt hat die Stadt etwas mehr als 38.000 Einwohner. Der 47-jährige Roland Orgassa arbeitet unter Tage als Förderschlosser. „Die Zechenschließung ist eine einschneidende Sache. Die Stadt ist mit der Zeche groß geworden“, sagt er.

Rund 40 Hektar Werksgelände mitten in Kamp-Lintfort und weitere 30 Hektar Kohlenlagerplatz weiter südlich werden Ende Dezember ihre Bedeutung verlieren. Die Stadt trägt die Werkzeuge Schlägel und Eisen als Symbol für den Bergbau in ihrem Wappen. Und sie hat einen Masterplan entwickelt, wie es nach dem Ende der Steinkohleförderung weitergehen soll.

„Kamp-Lintfort hat bisher keinen Bahnanschluss“

Die 2009 gegründete Hochschule Rhein-Waal wolle zwei der Ausbildungsgebäude auf dem Gelände übernehmen, sagt Andreas Iland vom Amt für Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing. Außerdem sei es vorstellbar, ein paar Gebäude zu Loftwohnungen umzubauen. Dort, wo die ehemaligen Kokereien mit ihren Altlasten die Erde verschmutzt haben, könne ein Park entstehen. Auf dem Kohlenlagerplatz sei ein Logistikstandort mit 1.000 neuen Arbeitsplätzen geplant.

Das wichtigste Projekt aber ist, die Bahngleise, auf denen im Moment noch Kohle transportiert wird, für den Personenverkehr zu nutzen. Denn: „Kamp-Lintfort hat bisher keinen Bahnanschluss“, sagt Iland.

Bürgermeister Christoph Landscheidt (SPD) hat die Losung „Vom Zechenstandort zur Hochschulstadt“ ausgegeben. In einem Beitrag für die Zeitschrift „Städte- und Gemeinderat“ schrieb er, eine neue Hochschule mit 2.000 Studenten sei zweifellos besser für ein zukunftsorientiertes Standortmarketing geeignet. Auch wenn der Makel einer rückwärtsgewandten Industrie dem Steinkohlebergbau zu Unrecht anhafte.

Helmut Schön, 78 Jahre alt und Bergmann mit Leib und Seele, ist empört: „Mich ärgert, dass die Politiker sagen, das Image der Bergarbeiterstadt müsse verschwinden. Ich bin stolz, in einer Bergarbeiterstadt zu leben.“

Der Bergbau wird das Stadtbild immer prägen

Sein Freund Klaus Deuter beschwichtigt. Er findet es richtig, dass Kamp-Lintfort Hochschulstadt wird: „Wir schauen in die Zukunft.“ Das Bergwerk West habe sich seit Jahren auf die Schließung vorbereitet, auch für die Zulieferer sei das nicht überraschend gekommen. „Natürlich tut es weh“, sagt er und seine Augen röten sich hinter den Brillengläsern.

Aber Kamp-Lintfort habe Glück, dass die Zeche eine der letzten sei, die dichtmache. „Sonst würden die Leute der Arbeit hinterherziehen.“ So bleiben sie, und noch immer wohnen viele von ihnen in der Bergarbeitersiedlung östlich des Werksgeländes. Kleine, freistehende Backsteinhäuser reihen sich aneinander. Auch ein Museum gibt es dort, das zeigt, wie ein Bergarbeiter in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts lebte.

„Der Steinkohlebergbau wird immer präsent sein im Stadtbild“, sagt Iland. Viele Bürger haben bei Diskussionsveranstaltungen gefordert, die Gebäude auf dem Werksgelände zu erhalten. Zumindest 10 der etwa 25 Gebäude sollen im kommenden Jahr in eine Denkmalschutzliste eingetragen werden, darunter die ehrwürdige, blau gekachelte Lohnhalle.

Die übrigen Gebäude sollen ab 2014 nach und nach abgerissen werden. Was mit dem Förderturm passiert, ist noch unklar. Das Symbol des Bergbaus im Stadtwappen bleibt.

Autor: Herbert Spies und Kathrin Aldenhoff, dapd | Foto: Volker Hartmann/dapd
Foto: Ein Bergmann mit Plastiktüten über der Schulter verlässt nach seiner Schicht am Dienstag (18.12.12) in Kamp-Lintfort am Tor 1 das Bergwerk West. Am Freitag (21.12.12) ist die letzte Grubenfahrt in der Schachtanlage des Bergwerks West in Kamp-Lintfort am Niederrhein.