Lüttich/Köln Im Oktober 1924 veröffentlichte der französische Schriftsteller und Kritiker André Breton in Paris sein “Manifeste du Surréalisme”. Der Surrealismus ist heute, 100 Jahre später, vor allem durch die großen bildenden Künstler wie Salvador Dalí, Juan Miró, Max Ernst oder René Magritte in Erinnerung geblieben. Die Bewegung ist seit den 1920er Jahren neben der Kunst auch wegweisend für die Literatur und umfasst Medien den Film und die Fotografie. Es war eine Lebenshaltung und eine Lebenskunst, die sich gegen traditionelle Normen und Werte der Gesellschaft äußerte.
Neben dem Ursprungsland Frankreich hatte der Surrealismus vor allem im Nachbarland Belgien eine große Bedeutung. Dort spielte neben der Hauptstadt Brüssel die französischsprachige Wallonie als Region eine entscheidende Rolle. Zum Jubiläumsjahr gibt es dort in den Städten Lüttich, Mons und Chaleroi große Sonderausstellungen. Bei der Reise durch die Wallonie lassen sich zudem auch viele Spuren großer Künstler wie René Magritte finden. Die Region ist mit Zügen wie dem Eurostar binnen von ein bis zwei Stunden von Köln aus gut mit Zügen wie dem Eurostar über Lüttich und Brüssel erreichbar.
Bekannt wurde René Magritte vor allem durch seinen Kleidungsstil mit Anzug und Melone sowie durch stetig wiederkehrende Motive wie dem Apfel, der Pfeife, der Taube oder den strahlend blauen Himmel. Geboren wurde er 1898 im Städtchen Lessines, wo er heute noch als Bronzeskulptur auf einer Bank sitzend den zentralen Platz schmückt. Seine Melone trägt er bezeichnenderweise für einen Surrealisten umgekehrt auf dem Kopf.
Später ziehen seine Eltern, der Schneider Leopold Magritte und die Hutmacherin Régina Bertinchamp, mit ihm einen seinen beiden Brüdern nach Châtelet unweit der Industriestadt Charleroi. Dort baut sein Vater, als Handelsvertreter zu Geld gekommen, 1911 eine schicke Villa im Jugendstil, in der Magritte Teile seiner Kindheit und Jugend verbringt. Das Haus gehört heute der Stadt und kann als “Maison Magritte” besichtigt werden. Das Erdgeschoss ist noch im Originalzustand erhalten.
Die Zeit in Châtelet ist für den Künstler prägend. 1912 bekommt der junge René seinen ersten Unterricht im Zeichnen und Malen. Ein originales Jugendbild kann heute noch im Haus besichtigt werden, wo einst der Vater stolz die Werke seines ältesten Sohnes präsentierte. Traumatisch ist im Jahr 1912 der Selbstmord der Mutter, die nach zwei Wochen Suche tot in einen Fluss gefunden wird. Der Leichnam wird mit Tuch bedeckt, ein Motiv, dass sich später immer wieder in Magrittes Werken finden.
Im Haus ist Magritte auf einem Foto auch schon mit der für ihn typischen vornehmen Kleidung am Kamin lehnend zu sehen. In der Zeit lernt er auch seine spätere Ehefrau Georgette Berger auf einer Kirmes kennen. Später begegnen sich die beiden erneut in Brüssel. Das spätere Wohnhaus des Paares kann dort heute besichtigt werden, wo sich zudem das große Magritte Museum befindet.
Anders als viele Kollegen, die Salvador Dalí einen sehr extravaganten Lebensstil pflegten, galt Magritte als eher bürgerlich in seinem Erscheinungsbild und in seinem Alltag. So lebte er in einem Brüsseler Außenbezirk ziemlich bescheiden, verzichtete auf ein eigenes Atelier und arbeitete stattdessen zu festen Zeiten lieber im Wohnzimmer oder seiner Küche. All das hinderte ihn aber in seinen Werken nicht, seine fantastische Welt zu entfalten, die bis heute den Betrachter begeistert.
In Brüssel bildete sich in den 1920er Jahren eine eigene Gruppe der Surrealisten, zu der neben Louis Scutenaire und Paul Colinet mit René Magritte ein weiterer Künstler aus der wallonischen Provinz Hennegau hinzustößt. Eine zweite Gruppe bildet sich etwa zehn Jahre später in ihrer alten Heimat, die Hainaut-Gruppe. Zu ihr gehörte unter anderem der Bildhauer Pol Bury. Heute noch besichtigen kann man die Räume der 1957 von der Gruppe gegründeten Zeitschrift “Daily-Bul”, die ihren Sitz in der Stadt La Louvière hatte. Dort sind aktuell zwei Ausstellungen zu sehen. Die erste befasst sich mit der Hennegau-Gruppe und ihren Manifesten. Die zweite ist der jungen Künstlerin Luna Lambert gewidmet, die in drei Installationen ihre heutige Sicht auf den Surrealismus zeigt.
Der zweite berühmte belgische Surrealist ist Paul Delvaux, dem in Kölns Partnerstadt Lüttich im Museum La Boverie bis zum 16. März eine große Retrospektive gewidmet ist. Sie zeigt nicht nur umfassend dessen Werk mit Gemälden und Zeichnungen, sondern auch andere Maler wie Pablo Picasso, René Magritte oder Giorgio De Chirico, die ihn beeinflusst haben. In der Schau finden sich neben eines von Andy Warhol angefertigten Porträts von Delvaux auch dessen immer wiederkehrende Motive wie den lebendig gewordenen Skeletten, nackten schönen Frauen sowie antiken Szenarien, aber auch nächtliche Bahnhöfe mit detailgenau dargestellten Zügen. Außerdem gibt es einen Einblick in sein Atelier und in seine Arbeitsweise von der Skizze bis zum fertigen Bild.
In Chaleroi, der Stadt, in der René Magritte mit seiner Familie nach dem Tod der Mutter kurzzeitig lebte, befindet eines der größten Fotografie-Museen der Welt. Dort wurden aus der drei Millionen Negative umfassenden Sammlung Fotografien für die Sonderausstellung “Suréalisme pour ainsi dire” (Sozusagen, Surrealismus) ausgewählt, welche bis zum 26. Januar die besondere Beziehung der Bewegung zum Medium Fotografie zeigt. Zu sehen sind in der ehemaligen Klosterkirche unter anderem Arbeiten von René Magritte, Man Ray, Hans Bellmer und Paul Eluard. Darunter sind auch viele noch nie gezeigte Aufnahmen.
In Mons, das ebenfalls zum Hennegau gehört, zeigt das Musée de Beaux-arts noch bis zum 16. Februar die Schau “Surréalisme Bouleverser le reel” (Surrealismus. Die Wirklichkeit erschüttern). Dort geht es um das surrealistische Objekt, als zentraler Punkt bei der Definition der Bewegung. Diese steht in direktem Zusammenhang der für den Surrealismus typischen Suche nach der sozialen Wirkung der Bewegung. Die Geschichte wird dreidimensional wie bei der einglasigen Brille, der Pfeife, der Melone oder dem Kussmund, aber auch in Dichtung, Malerei, Fotografie, Collage und im Film erzählt. Dabei fällt der Fokus auf die ausschlaggebenden 1920er und 1930er Jahre, aber auch auf die Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit mit der Kommerzialisierung der Bewegung.