Bernd Göken und sein Team blieben, als die Raketen kamen – die Hilfsorganisation Cap Anamur steht für radikale Humanität Bernd Göken, Geschäftsführer von Cap Anamur/Deutsche Notärzte spricht im Interview mit Marlene Nunnendorf über radikale Humanität und die Einsätze von Cap Anamur/Deutsche Notärzte im Wandel der Zeit und die Herausforderungen, die sie an den engagierten Einzelnen stellen.

[infobox]Ein Interview über Motivation, Mut und Menschlichkeit und die Arbeit von Cap Anamur/Deutsche Notärzte mit dem Geschäftsführer Bernd Göken. Seit fast zwanzig Jahren arbeitet der examinierte Krankenpfleger für die Kölner Hilfsorganisation. Seinen ersten Einsatz absolvierte er in Angola. Seit 2004 hat Göken die Geschäftsführung von Christel und Rupert Neudeck übernommen, die den gemeinnützigen Verein 1979 gemeinsam mit ihrem Freund Heinrich Böll, gründeten, nachdem sie beschlossen, dem Leid der sogenannten „Boatpeople“ in Vietnam nicht zuzusehen. Sie charterten einen Frachter, dessen Name seitdem für die Hilfsorganisation steht. Nachdem Cap Anamur mit dieser Aktion über 10 000 vietnamesische Flüchtlinge retten konnte, weitete die NGO ihre Arbeit aus. Seither hat die privat finanzierte Hilfsorganisation in über 50 Ländern humanitäre Hilfe geleistet, derzeit unterhält sie Projekte in zwölf Ländern. „Er ist ein absolut würdiger Nachfolger für den unvergesslichen Rupert Neudeck.“, sagt der Investigativjournalist Günter Wallraff über Bernd Göken.

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Auf Ihrer Website zitieren Sie Ihren Gründer Rupert Neudeck: „Ich möchte nie mehr feige sein! Cap Anamur ist das schönste Ergebnis des deutschen Verlangens nie mehr feige, sondern nur mutig zu sein“. Was bedeutet das für Sie, Herr Göken?

Bernd Göken: Das heißt für mich in der Arbeit, dass wir auch in Regionen gehen, obwohl wir auch zweifeln, ob man da was bewegen kann. Es bedeutet, dass man trotz aller Widrigkeiten dortbleibt, wo die Not am größten ist, wie z.B. in der Zentralafrikanischen Republik oder in den Nuba-Bergen, wo wir auch mit Rupert waren, wo ich auch selbst zwei Jahre lang gelebt habe (Mitte 1999 bis Ende 2001). Es bedeutet auch, dass man sich nicht davon abhalten lässt, wenn die Politik sagt, dass da keine Unterstützungen gegeben werden oder, dass es vielleicht Verbote gibt, in bestimmte Regionen zu gehen. Dass man sich allein auf diese radikale Humanität, die Rupert ja auch immer beschrieben hat, beruft und sagt: „Wir wollen diesen Menschen helfen und wollen für diese Menschen da sein!“. Denn manchmal reicht es auch für diese Menschen, dass man da ist, dass man ihnen zur Seite steht und dass wir uns von unserem Weg nicht abhalten lassen, egal, was passiert.

Haben Sie damit die Definition von „radikaler Humanität“, die Ihr Leitgedanke ist, genannt oder würden Sie noch etwas hinzufügen?

Bernd Göken: „Radikal“ heißt ja auch an die Wurzel zu gehen, an die Wurzel der Probleme. Dass man einerseits sagt: „Wir helfen den Menschen, z.B. im Sudan.“, dass man andererseits aber auch versucht, an die Wurzel des Problems zu gehen und Veränderungen herbeizuführen. Das bedeutet, dass man versucht, vor Ort auch politisch etwas zu verändern.

Welche Herausforderung bedeutet es in Ihrer Arbeit, die „radikale Humanität“ konsequent zu verfolgen?

Bernd Göken: Gerade, wenn man versucht, gegen alle Widerstände an die Menschen heranzukommen, macht man weiter: Wenn man daran gehindert wird, in Flüchtlingslager zu gehen, oder wenn es verschiedene sich bekriegende Parteien gibt , die dann die Hilfe lieber in ihre Richtung fokussieren wollen. In Afghanistan zum Beispiel haben die Warlords ganz klar versucht, uns in ihre Richtung zu beeinflussen. Die radikale Humanität gibt der Sache einen Sinn. Man weiß genau, wofür man es macht. Eben nicht für die Eliten, sondern für die Menschen, denen es am schlechtesten geht, so wie wir im Libanon syrischen Flüchtlingen oder auch den armen Libanesen helfen. Oder, wenn man in Bangladesch ist, wo man sich auf der einen Seite um die große Anzahl von Rohinja-Flüchtlingen kümmert, aber trotzdem auch um eine sehr arme Bevölkerung in Bangladesch, die unsere Hilfe braucht. Man sucht ja immer nach einer Sinnhaftigkeit und die lässt sich damit auf jeden Fall umsetzen.

Wie genau sieht die Unterbringung Ihrer Mitarbeiter vor Ort aus? Wie leben sie?

Bernd Göken: Meistens leben wir so wie auch die Menschen vor Ort. Wenn man das miterlebt, einfach so lebt wie die Menschen nebenan, dann ist es auch viel einfacher ihre schwierige Lebenssituation zu ertragen. Ich war zwei Jahre in den Nuba-Bergen. Da sind einmal Norbert Blüm* und Heiner Geißler*(*prominente CDU-Politiker bis in die 90er Jahre) mit Rupert Neudeck zu Besuch gekommen. Die sind auf einer Buschpiste gelandet, mussten dann noch 50 Kilometer zu Fuß gehen. Sie mussten durch eine sehr heiße Gegend wandern. Wir konnten diese Reise nicht an einem Tag machen, also mussten wir zwei Nächte unter Bäumen übernachten. Das war für die beiden ganz selbstverständlich. Die waren sofort mit drin. Sie haben gleich den Kontakt mit den Leuten gesucht. Sie haben gesehen, wie die Menschen dort leben und hatten dann auch schnell den Kontakt zu ihnen. Das macht es dann auch einfacher zu sagen: „Okay, dann schlafen wir heute Nacht unter dem Baum in unserem Schlafsack und morgen früh geht es weiter. Obwohl wir gar nicht mehr können, trotzdem haben wir ein klares Ziel. Wir wollen zu diesem Krankenhaus kommen, wir wollen diesen Menschen helfen, wir wollen ihnen zeigen, dass da auch jemand aus Deutschland kommt – auch, wenn er in Nairobi wahrscheinlich noch in einem 5 Sterne Hotel gewohnt hat.“ Aber, man kann sich sehr schnell adaptieren und das ist auch etwas, was ich immer wieder merke, was uns sehr verankert in der Community. Dadurch, dass wir so Leben wie die Menschen vor Ort, sind viele überrascht. Man kennt das von manchen anderen Organisationen mit den vollklimatisierten Büros. Wenn man jedoch so lebt wie die Menschen vor Ort, bringt das eine ganz andere Akzeptanz mit sich.

Was genau bewegt sich so schnell in einem, wenn man so lebt wie die Menschen vor Ort?

Bernd Göken: Aus meiner Sicht lebt man intensiver. Wenn die Bahn hier drei Minuten zu spät kommt, dann ärgere ich mich hier. Aber, wenn man morgens mit 20 Trägern los zu einem Krankenhaus laufen will und es geht erst um 08:00 Uhr los, dann ist das ebenso. Man kann es sowieso nicht ändern. Man nimmt alles viel bewusster wahr. Man merkt auch, wieviel Freude diese Menschen haben. Dass die Menschen mit so wenig leben können. Sie haben nichts, sie haben kein Internet, sie haben kein Facebook, kein Instagram und was sonst noch alle hier so brauchen – und leben aus meiner Sicht viel glücklicher. Und das nimmt man auch sehr schnell an.

Dieser von ihnen beschriebene Perspektivwechsel scheint auch bei vielen Politikerinnen und Politikern zu geschehen. Ich habe beobachtet, dass Politiker von einer restriktiven Haltung in der Flüchtlingspolitik oft eine Kehrtwende vollziehen, wenn sie vor Ort das Elend in den Flüchtlingscamps mit eigenen Augen gesehen haben. Ist das so?

Bernd Göken: Ja, das ist auf jeden Fall so. Armin Laschet (Ministerpräsident NRW, CDU) war ja bei unserem 40jährigen Jubiläum und er hat eine sehr bewegende Rede gehalten, wie ich finde. Er hat dabei sehr deutlich herausgestellt, wie wichtig es ist, dass man hinschaut wie andere Menschen leben und wie das ist.

Nicht alle Menschen teilen die Hilfsbereitschaft gegenüber notleidenden Menschen. Immer wieder gibt es von bestimmten politischen Kreisen die Diskussion über das Verteidigen von Grenzen gegenüber Flüchtenden. Was würden Sie diesen Menschen mit Ihrer Erfahrung sagen?

Bernd Göken: Es gibt einfach gravierende Zwänge, die die Menschen dazu treiben, zu flüchten. Dazu gehören auch wirtschaftliche Zwänge, wie bei den Vietnamesen in den 70er Jahren. Aber, wenn die Menschen die Möglichkeit haben, wieder zurück zu gehen, dann tun sie dies in der Regel auch. Denn sie sind einfach kulturell in ihrer Heimat verwurzelt, so wie wir auch. Nehmen wir mal den afrikanischen Kontinent als Beispiel. Dort werden einfach Ressourcen abgebaut, ohne dass eine funktionierende Infrastruktur ausgebaut würde. Ich denke, dass wir in den 70er Jahren dort eine bessere wirtschaftliche Situation hatten als heute. Es gibt dort aktuell nur eine funktionierende Autofabrik, die dort existiert – das war in den 70er Jahren schon einmal anders. Ja und das, was die Führungen dort machen, ist das, was sie immer machen: sie verkaufen ihre Bodenschätze. Damit gibt es dann keine Hoffnung für die Menschen. Was kann ein junger Mensch in Afrika machen? Er kann vielleicht Handel betreiben. Dann verkauft er am Anfang Socken, dann T-Shirts und dann Bluetooth- Boxen. Mehr Alternativen gibt es kaum. Da müsste es mehr Förderung geben.

Seit Jahren duldet Europa humanitäre Katastrophen auf der Insel Lesbos mit dem Flüchtlingslager Moria und im Mittelmeer ertrinken Flüchtende. Durch die Medien gehen Bilder unendlichen Leids. Wie kann es sein, dass Europa an einer solchen humanitären Katastrophe beteiligt ist?

Bernd Göken: Wir mussten schon 2004 erleben, dass es kaum Interesse an den vielen Ertrinkenden auf dem Mittelmeer gibt. Es scheint nur um Abschreckung zu gehen. Nicht das Leben der Menschen auf der Flucht ist wichtig, es geht darum zu zeigen, dass es keinen Weg nach Europa gibt. Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll hatte in einem Interview mit dem Spiegel 1981 gesagt: “Ich bin der Meinung, dass man Menschenleben retten soll, wo man sie retten kann. Und keine Institution, die Leben zu retten vermag, darf auf offener See Selektion betreiben. Das hieße ja, Menschen willkürlich zum Tode zu verurteilen.“ Doch genau dies passiert aktuell im Mittelmeer. Europa lässt traumatisierte, fliehende Menschen, Erwachsene und Kinder, vor den geschlossenen Grenze ertrinken (in Lagern eingeengt überleben). Der Friedensnobelpreis, den die Europäische Union 2012 erhalten hat, wirkt in Anbetracht dessen wie eine Farce.

Die europäischen Länder können sich auf kein gemeinsames Vorgehen einigen. Würde die Flüchtlingspolitik anders laufen, wenn alle Entscheidungsträger verpflichtet wären, auf eine bestimmte Zeit mit den Menschen in Not zu leben? Würde dieser von Ihnen beschriebene Perspektivwechsel Bewegung in die Flüchtlings- und Entwicklungspolitik bringen?

Bernd Göken: Sobald ein Politiker in einem dieser Lager war, hören sich die Aussagen der Politiker meistens anders an und sie wollen etwas für diese Menschen machen. Die Perspektive der Notleidenden ist so wichtig! Erst dann kann man verstehen, was die Menschen wirklich erleben müssen. So wie wir es im Kleinen in unseren Projekten machen, sollten die Politiker den Menschen in den Krisenländern zuhören. Vielleicht schafft die Politik es dann, den Menschen zu besseren Lebensbedingungen in ihren Heimatländern zu verhelfen.

Cap Anamur hat es sich zum Ziel gemacht, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Wie setzen Sie das in Afrika um?

Bernd Göken: Sie meinen, was wir machen, um die Menschen zu befähigen? Es ist immer so, dass wir schauen, ob es bestehende Strukturen gibt. Wir gehen dann in diese Strukturen hinein, um sie zu verbessern. Das heißt, dass wir nicht als die weißen Ärzte, Krankenschwestern, Logistiker dorthin gehen, die alles besser wissen. Sondern, wir arbeiten in Partnerschaft zusammen. Wir wollen auch Fachwissen dorthin tragen. Das Ziel ist immer, dass wir ab einem gewissen Zeitraum rausgehen können, der drei, fünf, vielleicht auch einmal sieben Jahre dauern kann. Die medizinische Einrichtung oder die Schule soll dann auch ohne uns weiterlaufen können. In Afghanistan haben wir beispielsweise einen Tiefbrunnen gebaut, wo dann die Menschen Wasser bekommen. Wir stellen dann einen Generator zur Verfügung und bohren das Loch. Die Menschen müssen sich dann z.B. darum kümmern, Diesel zu beschaffen, so dass wir nicht alles machen.

Wäre das auch eine politische Option, dass die reichen Länder mehr Hilfe zur Selbsthilfe leisten?

Bernd Göken: Wenn das jetzt durch die Politik im größeren Rahmen auch geschafft werden könnte, wäre das natürlich wunderbar. Denn es gibt wahnsinnig viel Potential in allen Ländern und das muss unterstützt werden. Das Problem besteht darin, diese Menschen in den Ländern zu halten. Das Problem haben wir auch im Libanon. Da gibt es eine recht große gut ausgebildete Diaspora. Die ist gut ausgebildet – ist aber weg. Wahrscheinlich würde es besser aussehen, wenn sie wieder zurückkämen. Was uns anbelangt, so sehen sich unsere Mitarbeiter vor Ort ganz genau an, was die Menschen dort am dringendsten brauchen. Dann überlegen wir uns, wie wir das umsetzen können – und wenn wir das leisten können, machen wir das auch.

Wie organisieren sich die Menschen vor Ort selbst?

Bernd Göken: Wichtig ist auch, dass man schaut, wie sich die kleinen Dörfer, diese kleinen Communities in Afrika unterstützen. Die haben oft keine staatliche Unterstützung für eine Schule. Dann organisieren sie das selbst. Die kriegen das hin und dann werden die Kinder unterrichtet. Es ist einfach wichtig hinzuschauen, dass die Menschen in Afrika die gleichen Wünsche und Bedürfnisse haben, wie wir hier. Deswegen entscheiden sich manche Menschen, die Kinder nach Europa zu schicken, in der Hoffnung, dass es vielleicht besser wird. Wenn wir die Wirtschaft dort mehr fördern würden, gäbe es auch weniger Bewegung.

In den Medien erfährt man immer wieder davon, dass China unglaublich viel Land und Minen in Afrika aufkauft. Wie wirkt sich das aus? Ist das vor Ort spürbar?

Bernd Göken: China ist in der Tat sehr präsent. Mir hat mal ein kongolesischer Gouverneur gesagt, dass es viel einfacher sei, mit den Chinesen Geschäfte zu machen, denn die stellten keine Forderungen und keine Fragen. Die Europäer hätten immer so viele Forderungen und wollten immer Dinge verändern. Deswegen ist China dort sehr präsent. Der Markt dort wird mit chinesischen Waren überschwemmt. Allerdings haben die Waren, die aus China kommen, eine sehr schlechte Qualität. Ich habe einmal gehört, dass China bessere Ware für den europäischen Markt herstellt und schlechtere für den afrikanischen. Damit geht für Afrika viel Wirtschaftskraft verloren, die in Waren investiert wird, die sie am Ende wohl kaum gebrauchen können. Wo das Ganze hingeht, kann ich momentan nicht voraussehen. Diese Entwicklung jedoch lässt stark zu wünschen übrig.

Schaffen Sie es immer, ihre Projekte nach einigen Jahren in die Selbstständigkeit zu entlassen?

Bernd Göken: In der Regel schon. Eine Ausnahme bildet der Sudan. Wir haben dort ein Krankenhaus, da sind wir jetzt schon seit 20 Jahren. Das ist unüblich, aber die politische Situation durch den Dauerkrieg lässt es einfach nicht zu, dort wegzugehen. Denn die Menschen haben kein Geld, sich die Medizin zu kaufen. Wir haben dort angefangen und wir hatten nicht einen einzigen ausgebildeten Krankenpfleger, geschweige denn einen Arzt. Wir haben Leute aus Deutschland geschickt und die haben diese Menschen ausgebildet. Wir haben zum Beispiel einen Mitarbeiter, der kann heute wunderbar operieren. Der ist kein Arzt. Der war nie an einer Universität, aber der ist durch deutsche Chirurgen trainiert worden und macht heute hervorragende Arbeit. Das Krankenhaus würde weiterarbeiten, wenn wir aufgrund der Kriegshandlungen gehen müssten. Aber das wäre natürlich endlich, weil der Nachschub an Medikamenten das Problem wäre. Da ist so viel Fachwissen mittlerweile durch zwanzig Jahre Expertise aus Deutschland, so dass wir heute eigentlich eher eine begleitende Funktion haben.

Haben sich mehr Frauen oder Männer für die gefährlichen Einsätze gefunden?

Bernd Göken: Erstmal muss man grundsätzlich sagen, dass die Frauen, die aus Deutschland rausgehen, meist mutiger sind als die Männer. Das jedenfalls ist meine Erfahrung. Es gibt so ein Beispiel aus Somalia, aus Mogadischu. Das war eins der gefährlichsten Projekte, die wir überhaupt gemacht haben. Es war kurz nach dem Besuch von Frau Merkel in Kenia (2011), da öffnete sich plötzlich eine Tür für Mogadischu. Wir hatten vorher während unserer Zeit in Somalia schlechte Erfahrungen gemacht. Wir sind angegriffen worden, es gab dort mehrere Banditen, die unser Lager überfallen haben und wir hatten uns eigentlich aus Somalia verabschiedet und gesagt, dass wir das nicht mehr machen, weil es einfach zu gefährlich ist für uns. Dann öffnete sich aber diese Tür und das Leid war immens. Wir waren da anfangs in einer Kinderklinik mit 250 Betten und da sind jeden Tag 30-40 Kinder gestorben. Da haben wir hier händeringend nach Leuten gesucht, die helfen. Wir haben dann doch ein deutsches Team schicken können. Es waren sechs Frauen und ein Mann. Das war die schlimmste Krise, aber ein sehr starkes Team. Da habe ich keine Männer gefunden – bis auf einen. Die deutschen Frauen sind auf jeden Fall mutiger als die Deutschen Männer – das ist auf jeden Fall meine Erfahrung. Zumindest von denen, die sich bei uns bewerben. Von den meisten Männern habe ich zu Somalia gehört: „Da gehe ich auf keinen Fall hin!“. Wohingegen die Frauen gesagt haben: „Wen ich da gebraucht werde, gehe ich da hin.“

Werden Ihre Mitarbeiterinnen in den Krisengebieten akzeptiert? Sind Frauen sicher? Gerade in Krisenregionen gibt es vor Ort klare patriarchale Strukturen. Was bedeutet das für Ihre Mitarbeiterinnen?

Bernd Göken: Frauen haben es schwerer mit der Akzeptanz. Das Gute bei uns ist, dass wir wirklich ein Teil der Community sind und dass die, die wir entsenden, natürlich Expertinnen sind. Fachwissen überzeugt dann selbst den größten Querkopf. Aber für Frauen ist es in manchen Ländern schon schwieriger.

Haben Sie auch Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter in Projekten, die Kinder haben? Immerhin sind Ihre Einsätze nicht immer ganz ungefährlich…

Bernd Göken: Ja, die gibt es auch. Also, vorweg muss man natürlich sagen, dass wir immer ein Interesse haben, dass unsere Mitarbeiter zurückkommen. Wir machen keine Harakiri-Projekte. Der Sudan beispielweise ist eine Struktur, die in 20 Jahren gewachsen ist. Oder in Zentralafrika, wo es in der heißen Phase sehr kompliziert war. Da haben wir dann nur Leute geschickt, die auch Krisenerfahrung haben, wie Volker Rath, der mittlerweile unseren Vorsitz innehat. Es gibt einmal die jungen Mitarbeiter, die gerade ihren Facharzt gemacht haben, aber wir haben auch viele, die älter sind. Die haben dann erwachsene Kinder. Wir hatten auch schon Leute, die kleine Kinder zuhause haben und die das gemacht haben. Es gibt bei manchen Bewerbern tatsächlich auch Interesse, mit Kindern rauszugehen, aber das machen wir nicht. Da sind die Lebensbedingungen für Kinder mit Sicherheit noch schwieriger als für die Erwachsenen.

Cap Anamur hat in über 50 Ländern gearbeitet und dort geholfen. Das ist für eine kleine Organisation immens. Wie schaffen sie das?

Bernd Göken: Wir schaffen das in erster Linie über die Leute, die rausgehen, die sind einfach supergut. Wir sind hier fünf Leute im Büro, wir halten die Verwaltung möglichst gering, um die Verwaltungskosten zu sparen. Der Erfolg unserer Projekte entsteht vor allem dadurch, dass unsere Leute vor Ort -Ärzte, Pfleger, Logistiker – mit viel Herzblut dabei sind. Damit machen sie es uns sehr leicht. Die Projekte entwickeln sich auch mit den Ideen vor Ort. Dadurch, dass unsere Teams vor Ort sind und mit den Menschen leben, sehen sie die Probleme der Menschen und wissen dann ganz genau, was helfen würde. Wenn wir das dann finanzieren können, dann setzen wir das auch um. Es ist eben nicht so, dass die Mitarbeiter in Köln, in der Zentrale sich überlegen, was machen wir jetzt mal in Sierra Leone, sondern es sind die Mitarbeiter, die vor Ort mit ihrer Expertise unsere Hilfe direkt auf die Bedürfnisse der Menschen zuschneiden. Wir haben in der Regel immer sieben bis zwölf Länder, in denen wir gleichzeitig aktiv sind. Mehr würden wir mit der derzeitigen Personalstärke auch nicht schaffen.

Es gibt unzählig viele Krisenregionen auf dieser Welt. Welche Faktoren tragen zu ihrer Entscheidung bei, in eine bestimmte Region zu gehen?

Bernd Göken: Da heben wir zum einen die akuten Katastrophen, wo ganz klar ist, dass da was passieren muss und dass wir da hinmüssen. Zum anderen erhalten wir immer wieder Anfragen. Der Kontakt läuft dann übers Internet. In früheren Zeiten war es so, dass Reisende, die Missstände in einer Region gesehen haben, die Neudecks (Gründer von Cap Anamur, Anmerkung der Redaktion) kontaktiert haben. Gerade in den 70ern gab es ja viele Leute, die den afrikanischen Kontinent erkundet haben. Die haben dann gesagt: „Du, ich war gerade in Uganda, könnte man da nicht was machen? Wenn wir also einen Hinweis bekommen, dass irgendwo Hilfe benötigt wird, sei es durch eine lokale NGO, einen ehemaligen Mitarbeiter oder jemand anders – heute meist übers Internet -, dann fährt meistens ein Team runter. Das ist dann oft Volker, manchmal bin ich auch mit dabei. Dann schauen wir, ob wir da vor Ort auch einen Partner finden, mit dem wir etwas umsetzen können.

Haben Sie den Eindruck, dass die Journalisten in ihrer Berichterstattung an unterschiedlichen Ländern unterschiedlich stark interessiert sind?

Bernd Göken: Also, mir hat einmal jemand von einem Sender gesagt, dass man die Menschen in Deutschland mit den Krisen auch nicht überfordern darf., dass ein einziges Land in der Berichterstattung schon genug ist. Dass da dann viele Länder herausfallen ist klar. Wenn man allerdings eine spannende Geschichte zu erzählen hat, die nicht alltäglich ist, wie in den Nuba-Bergen in Syrien, dann weckt man viel eher das Interesse. Wenn man jetzt die Nuba-Berge nimmt, da kommt man schon sehr, sehr schwer hin, aber da sind viele daran interessiert, darüber zu berichten. Aber der Weg da hinzukommen, der ist kompliziert und das kann dann nicht jeder umsetzen. Nicht jeder traut es sich. Wir haben Situationen wie bei Ebola, wo es viele interessiert hat, aber die Gefahr für die Journalisten, ähnlich wie für unsere Mitarbeiter, sehr groß war. Da ist das Interesse dann sehr groß, aber es ist schwierig für die Journalisten, dorthin zu gehen. Man merkt natürlich, dass es bei den Journalisten, gerade bei den Korrespondenten große Einsparungen gibt. Ich mache das jetzt seit 20 Jahren, da hat Rupert den Stab schon so ein bisschen übergeben, das hat sich in den letzten zehn Jahren noch einmal drastisch verändert. Es ist jetzt für die Journalisten viel schwieriger geworden, immer dahin zu fahren, wo gerade etwas passiert.

Hat sich auch etwas in der Sicherheitslage für Journalisten verändert?

Bernd Göken: Ja, auf jeden Fall. Es ist viel gefährlicher geworden für Journalisten. Bilder sind unglaublich wichtig, auch noch einmal mehr durch die sozialen Medien. Das haben auch die verschiedenen Gruppierungen erkannt. Jeder, der fotografiert, ist potentiell gefährdet. Ich glaube, dass die Arbeit von Journalisten heute viel, viel gefährlicher geworden ist als noch vor zehn bis fünfzehn Jahren. Das sieht Amnesty International übrigens genauso.

Das macht es dann auch für Sie schwieriger, Fotos zu machen und an die Medien zu schicken?

Bernd Göken: Ja, wir müssen schon schauen, wenn wir fotografieren, dass man da nicht in eine Gefahrensituation gerät. Wenn man geschickt ist, fotografiert man mit einem Handy, dann fällt es vielleicht nicht so auf. Aber man kann sich bei einem Konflikt nicht gerade dahinstellen und ein paar Fotos schießen, da begibt man sich dann tatsächlich in Gefahr. In der Zentralafrikanischen Republik sind erst vor einiger Zeit zwei Fotografinnen umgebracht worden, eine Französin und eine Belgierin. Oder in Syrien, da sind auch viele Journalisten entführt worden. Wir haben es dort auch selbst erlebt. Wir haben fotografiert und plötzlich stand IS vor der Tür und hat uns angegriffen. Also die Situation für Berichterstatter ist extrem schwierig.

Wie haben Sie reagiert, als Sie vom IS angegriffen wurden?

Bernd Göken: Wir hatten das große Glück, dass die Ärzte unseres Teams, die dort im Krankenhaus gearbeitet haben, uns da rausgelotst haben. Es war ein großer Angriff des IS, das war, als sie gerade etwas bekannter wurden. Wir sind über Schleichwege, über Mauern geflohen. Der IS hat aber Straßensperren errichtet und dann wurden wir in so einen Lieferwagen gelegt. Normalerweise sind wir aber mit einer Ambulanz rumgefahren. Gleichzeitig hat der IS sechs Autos zu uns geschickt. Wir hatten aber das Glück, dass der Lieferwagen, mit dem wir unterwegs waren, durchgewunken wurde – und so sind wir dann rausgekommen in die Türkei. Die Flucht war wirklich das Verdienst der Ärzte.

Was war Ihr einschneidendstes Erlebnis? Gehörte das mit dem IS dazu?

Bernd Göken: Ja, das gehört mit Sicherheit dazu. Allerdings denke ich bei der Frage noch mehr an die zehn Tage unter Dauerbeschuss in den Nuba-Bergen, als ständig über unser Krankenhaus gefeuert wurde. Da gab es unzählige Verletzte und wir standen durchgängig im OP. Wir haben kaum geschlafen, weil immer bombardiert wurde. Wir als Team haben uns gefragt, ob wir bleiben oder gehen sollen. Es gab kurzfristig ein Fenster, das sich öffnete, um rauszugehen. Dann sind aber die Leute zu uns gekommen und haben gesagt: „Wenn Ihr jetzt geht, bleibt und gar keine Hoffnung mehr!“ Das war ein berührender Moment, in dem wir als Team gar nicht sagen konnten, dass wir jetzt gehen. Wir hatten bereits fast zwei Jahre mit den Menschen gelebt…Also sind wir geblieben, obwohl es mit Sicherheit ein großes Risiko gab, da nicht heil rauzukommen. Aus Erfahrung weiß ich, dass es manchmal schon reicht, dass man da ist. Das gibt dann manchmal vielen Menschen Hoffnung.

Was ist ein Alleinstellungsmerkmal von Cap Anamur?

Bernd Göken: Ich glaube, dass unsere Arbeit, die auf unsere Partner ausgerichtet ist und dass unsere Mediziner, die zu hundert Prozent am Patienten arbeiten – und nicht die Hälfte des Tages in Meetings verbringen, was in unserer Branche sehr ausgeprägt ist – ist ein Alleinstellungsmerkmal. Zudem sind wir eine sehr kleine Organisation. Wir sind eine deutsche Organisation und haben keine internationalen Büros. Unsere Mitarbeiter vor Ort machen vor allem unsere Identität aus. Wir halten die Kosten so gering wie möglich, dadurch, dass wir so leben wie die Menschen vor Ort und dadurch, dass wir nur mit einem Team von fünf Leuten in Köln das Administrative erledigen.

Wie finanzieren Sie sich?

Bernd Göken: Cap Anamur finanziert sich fast ausschließlich aus privaten Spenden. Wir haben viele Kleinspender, die es uns ermöglichen, in den Ländern zu helfen. Es ist wunderbar, dass die Spender uns ihr Vertrauen schenken, so dass wir die Bedingungen für einige Menschen in Krisen – und Katastrophengebieten verbessern können.

Was sind Ihre größten Erfolge?

Bernd Göken: Jedes Projekt ist ein Erfolg. Ich habe noch nie erlebt, dass etwas gar nicht funktioniert hat. Wir konnten immer etwas voranbringen und etwas dalassen. Selbst, wenn es nach unserem Weggehen nicht mehr ganz so läuft wie vorher, bleibt immer etwas. Ich war jetzt noch einmal in Somalia, Anfang des Jahres. Da kam jemand auf mich zu und der sagte: „Cap Anamur, die kenne ich noch.“ – es war 1985, dass wir da waren. Er hat uns alte Aufkleber von Cap Anamur gezeigt und ein altes, löchriges T-Shirt hatte er auch noch. Er erzählte uns von dem Krankenhaus, das wir damals aufgebaut hatten, das ist heute das wichtigste Krankenhaus in Hagesa. Er hat sich an alles erinnert, was wir gemacht haben, hat dann noch alkoholfreies Bier vorbeigebracht und hat sich gefreut, dass er uns nochmal sieht.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Göken!

Autor: Marlene Nunnendorf
Foto: Bernd Göken (Mitte) spendet Blut bei einem Besuch