Köln | Er wollte dazu gehören, wollte Anerkennung, wollte Macht – das fand er in der Hitlerjugend. Er ging in die Kirche, glaubte an Adolf Hitler und war ein begeisterter Soldat. Nach dem Krieg kam der Bruch – und Günther Roos (Jahrgang 1924) arbeitete seine Vergangenheit auf. Als Zeitzeuge ging er an die Schulen, um die Jugend von heute vor einer ähnlichen Erfahrung zu bewahren. Jetzt ist über dieses Leben ein Buch erschienen.

Geschrieben hat „Macht will ich haben! Die Erziehung des Hitlerjungen Günther Roos zum Nationalsozialisten“ Martin Rüther, Historiker am Kölner NS-Dokumentationszentrum. Er konnte dabei auf umfangreiche authentische Materialien zurückgreifen. Es waren nicht nur zahlreiche Gespräche mit Roos. Da waren der – bundesweit wohl einmalig – reiche Briefwechsel in der Brühler Familie, die Berichte von Vater und Sohn von der Front, und die vielen Familienfotos. Vor allem aber die Tagebücher, die der junge Roos seit Ende der 1930er Jahre zu schreiben begonnen hatte. Wie viele es waren, weiß heute keiner mehr. Zum Glück hatte er sie alle transkribiert, dann aber bei einem Umzug vernichtet.

Die wichtigsten Sätze daraus bilden das Rückgrat für das Buch, sie werden verbunden mit den späteren Einschätzungen Roos’ über seine Einstellung als Jugendlicher und junger Erwachsener, als begeisterer Soldat. Er war einer der letzten Soldaten, die Köln noch „verteidigten“, als US-Truppen schon in die Stadt einmarschiert waren.

Mit der Kapitulation brach für ihn eine Welt zusammen

Die Kapitulation ließ für ihn eine Welt zusammenbrechen. Erst die Beschäftigung mit dem Holocaust, Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ oder Reisen nach Israel ließen ihn die Ereignisse und Erfahrungen hinterfragen. „Ein schmerzlicher Prozess“ erinnerte er sich. Und es dauerte lange, er sich vom Rassismus und Antisemitismus befreit hatte, die ihm in seiner Jugend eingetrichtert wurden.

Als Zeitzeuge erklärte Roos seinen jungen Zuhörern, warum er Jungscharführer wurde, warum er begeistert in den Krieg zog. Es sind nachvollziehbare Erklärungen – doch bei den eindeutigen Distanzierungen spürt man oft einen leichten Unterton des Unverständnisses gegenüber dem eigenen Verhalten: Wie konnte das damals geschehen, wie konnte er sich instrumentalisieren und für eine verbrecherische Politik missbrauchen lassen?

Wie konnte das geschehen? Die politischen, gesellschaftlichen und familiären Hintergründe dafür zeigt Rüther auf fast 300 Seiten auf. Wie funktionierte die Hitlerjugend, welchen Einfluss hatten die Medien, dazu eine Einbettung in sieben Kriegsjahre mit ihren historischen Ereignissen. Das ist gründliche und detailreiche Wissenschaft – aber immer gut lesbar und leicht verständlich. Statt mit Fußnoten wird mit Informationskästen gearbeitet, Fotos lockern das Layout auf. Er selber kann das Erscheinen dieses Buches nicht mehr miterleben, Roos starb 2013.

Neben dem Buch gibt es im Internet ein umfangreiches „flip book“

Doch es ist nicht nur das Buch, das dieses Aufklärungsprojekt – es entstand in enger Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung – so besonders macht. Denn dazu gibt es im Internet unter www.roos.nsdok.de ein „flip-book“, das wohl jeden bekannten Rahmen sprengt. Hier finden sich nicht nur die komplette Transskription aller Tagebücher und die Videoaufnahmen von Günther Roos’ Zeitzeugenberichten. Über 100 Links führen zu Hintergrunderklärungen etwa zu Ereignissen jener Zeit, Personen oder Fachbegriffen. Dort finden sich dann historische Fotos, Filme und Radioaufnahmen. Zielgruppe sind Schüler, aber auch Lehrer der Sekundarstufe 1 und 2. Ihnen werden hier ausführliche Unterrichtsmaterialien wie Arbeitsblätter und Gruppenarbeiten angeboten.

„Macht will ich haben! Die Erziehung des Hitlerjungen Günther Roos zum Nationalsozialisten“ ist gegen eine Schutzgebühr von 7 Euro im NS-Dokumentationszentrum (Appellhofplatz 23-25, 50667 Köln) oder bei der Bundeszentrale für politische Bildung (Adenauerallee 86, 53113 Bonn) erhältlich.

Autor: ehu | Foto: NS-Dok
Foto: Hitlerjunge Günther Roos im Jahr 1939 in der Uniform des Jungvolks.