Essen | Die Stimmung im Berliner Reichstag war aufgeladen, als Wilhelm Cuno am 13. Januar 1923 ans Rednerpult trat: „Gegen die Gewalt, die hiermit einem wehrlosen Volke angetan wird, erhebt die deutsche Regierung vor der ganzen Welt feierlich Protest“, empörte sich der parteilose Reichskanzler unter lauter Zustimmung der Abgeordneten.

Es war der Einmarsch französischer und belgischer Truppen ins Ruhrgebiet, der vor 90 Jahren in ganz Deutschland für Entrüstung sorgte. Zwei Tage vor Cunos Rede, am 11. Januar, hatten rund 60.000 Soldaten der ehemaligen deutschen Gegner im Ersten Weltkrieg das Zentrum der hiesigen Schwerindustrie unter ihre Kontrolle gebracht, um sich die Kohle- und Koksproduktion zu sichern.

„Recht und Vertrag sind mit dem Einmarsch der fremden Truppen ins Ruhrgebiet gebrochen worden“, befand Cuno in seiner Reichstagsrede. Dagegen sah sich der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré im Recht: Er verteidigte die Besetzung als „Politik der produktiven Pfänder“, um den im Versailler Vertrag festgelegten Reparationsforderungen der Siegermächte Nachdruck zu verleihen. Denn Deutschland war mit seinen Rohstofflieferungen in Rückstand geraten.

„Ruhrkampf“ mit vielen Toten

Doch die Regierung Cuno reagierte umgehend: In einem Aufruf „An das deutsche Volk“ wurde der „Gewaltstreich“ angeprangert, die untrennbare Einheit von Volk und Staat beschworen, zunächst zur Besonnenheit und kurz darauf zum passiven Widerstand aufgerufen: Die Bergleute erschienen daraufhin nicht mehr zur Arbeit, die Zechen stellten ihren Betrieb ein. Auch die Eisenbahner weigerten sich, den Abtransport von Kohle mitzuorganisieren.

Passiv aber blieben die Konsequenzen nicht. Was folgte, war der „Ruhrkampf“ mit erbitterten und brutalen Auseinandersetzungen zwischen beiden Fronten – so vor allem beim Essener „Blutsamstag“, als am 31. März 1923 französische Soldaten bei einer Beschlagnahmungsaktion 13 Arbeiter des Stahlriesen Krupp tödlich verletzten. Zwei Monate später, am 26. Mai, ließen die Besatzer Albert Leo Schlageter hinrichten. Er hatte mit einem Sabotagetrupp eine Eisenbahnbrücke bei Düsseldorf gesprengt, um die Fahrt der Kohlenzüge nach Frankreich zu verhindern.

Nach Einschätzung des Düsseldorfer Historikers Gerd Krumeich ging es Franzosen und Belgiern bei der Ruhrbesetzung aber weniger um die Sicherung materieller Ressourcen, sondern um einen „Krieg nach dem Krieg“ – in Form einer Revanche für die erlittene Besatzung während des Ersten Weltkriegs. Wie groß die Feindschaft immer noch war, macht auch Poincarés Wortwahl in der französischen Deputiertenkammer kurz vor der Ruhrbesetzung deutlich, als er die Deutschen als „treulose, wortbrüchige Barbaren“ beschimpfte.

„Immer wieder kommen in den französisch-belgischen Anordnungen Elemente dieser Erinnerung zum Vorschein“, stellt Krumeich fest, der als einer der profiliertesten Forscher über den Ersten Weltkrieg und der dazugehörigen Mentalitätsgeschichte – der Einstellungen und Gefühle der Menschen jener Epoche – gilt. Der Historiker sagt auch: „Den Deutschen fiel es leicht, die Brutalität der Besetzer anzuklagen. Sie hatten nie die eigene Brutalität erlebt.“ Insgesamt wurden während der Ruhrbesetzung 137 Menschen getötet.

Hyperinflation lässt Deutschland einlenken

Für Deutschland hatte die Finanzierung des passiven Widerstands unterdessen schwere wirtschaftliche Folgen. Die Alimentierung der Ruhrgebiets-Bevölkerung, der Wegfall von Steuereinnahmen und der teure Ankauf von Kohle gegen Devisen im Ausland setzten der ohnehin bereits stark angeschlagenen deutschen Währung weiter zu.

Die Inflation beschleunigte sich auf ein irrwitziges Tempo. Lag der Kurs für einen US-Dollar im Dezember 1922 bei 7589 Mark, waren es im Oktober 1923 bereits 40 Milliarden Mark. Und der Preis für ein Pfund Kartoffeln schnellte von 55.000 Mark im August 1923 innerhalb weniger Wochen auf unvorstellbare sechs Billionen Mark hoch.

Vor diesem Hintergrund brach die nach Cunos Rücktritt neu gebildete Regierung mit Reichskanzler Gustav Stresemann (SPD) im September 1923 den passiven Widerstand ab und gab den französischen Forderungen nach. Aber erst auf Druck Großbritanniens lenkten Frankreich und Belgien ein und zogen bis 1925 ihre Truppen ab.

Mit einer anschließenden Währungsreform konnte Stresemann die Inflation zwar beenden. Doch die Ruhrbesetzung war für die deutsche Volkswirtschaft ein schwerer Schlag: Unterm Strich kostete die Militäraktion nach Schätzungen bis zu fünf Milliarden Goldmark.

Autor: Frank Bretschneider, dapd | Foto: AP/dapd
Foto: Ein Schild mit der Aufschrift „Verkauf an Franzosen u Belgier findet nicht (unterstrichen) statt“ hängt in Berlin im Schaufenster eines Geschäftes, um gegen die Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen zu protestieren (Foto vom 08.02.23).