Brüssel | Die EU-Staats- und Regierungschefs haben sich nach mehr als viertägigen Verhandlungen doch noch auf ein circa 1,8 Billionen Euro schweres Finanzpaket geeinigt. Sie stimmten dem Gesamtpaket am frühen Dienstagmorgen zu. Der nächste siebenjährige Haushaltsrahmen umfasst demnach 1.074 Milliarden Euro, das Hilfsprogramm gegen die Folgen der Coronakrise 750 Milliarden Euro. Klimaschützer und Wissenschaftler bewerten EU-Paket unterschiedlich

Vor allem die Verhandlungen über den zweiten Punkt hatten sich in den vergangenen Tagen zäh gestaltet. Im Endeffekt soll das Hilfspaket wie geplant 750 Milliarden Euro schwer bleiben, davon sollen aber nur noch 390 anstatt ursprünglich angedachten 500 Milliarden Euro in Form von Zuschüssen fließen. 360 anstatt 250 Milliarden Euro sollen in Form von Krediten vergeben werden.

Zur Finanzierung werden im Namen der EU Schulden aufgenommen, die über Jahrzehnte gemeinsam getilgt werden sollen. Bei der Koppelung von EU-Geldern an die Rechtsstaatlichkeit wurde offenbar ebenfalls eine Einigung erzielt. Am Ende stimmten alle Gipfelteilnehmer einer Kompromissformel zu, über deren Interpretation es aktuell aber wohl noch unterschiedliche Auffassungen gibt.

Zum Abschluss des Gipfels zeigten sich alle Seiten zufrieden. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerte sich froh darüber, dass sich am Schluss alle „zusammengerauft“ hätten. Die Einigung sei ein „wichtiges Signal“.

Ähnlich äußerte sich EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Sie sprach von einem „Signal des Vertrauens“ sowie einem „historischen Moment“ für Europa. EU-Ratspräsident Charles Michel sagte unterdessen: „Das ist der richtige Deal für Europa zur richtigen Zeit“. Emmanuel Macron schrieb bei Twitter: „Historischer Tag für Europa!“ Der EU-Sondergipfel hatte bereits am Freitag begonnen und sollte eigentlich schon am Samstag zu Ende sein. Zweimal war er verlängert worden.

Klimaschützer und Wissenschaftler bewerten EU-Paket unterschiedlich

Mindestens 30 Prozent aller Ausgaben des von der EU beschlossenen Billionen-Pakets sollen dem Klimaschutz zugutekommen. Wissenschaftler und Klimaschützer bewerten diese Maßnahme unterschiedlich, berichtet das Nachrichtenportal Watson. Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig schätzt das Billionen-Paket der EU grundsätzlich positiv ein: „Das Ergebnis kann sich sehen lassen“, sagte Reimund Schwarze, Klimaöknom am UFZ, dem Portal.

„Ich glaube, die Bilder dieses Morgens werden, wie die Bilder zum Abschluss des Übereinkommens von Paris, in die Fotogalerie der Geschichte eingehen.“ Schwarze lobt insbesondere den „Just Transition Fund“, die Investitionen in den umweltfreundlichen Umbau der Landwirtschaft. Er sieht auch einen „indirekten Nutzen“ für den Klimaschutz darin, dass der EU in Zukunft insgesamt mehr Geld zur Verfügung steht.

Brigitte Knopf, Generalsekretärin des Klimaforschungsinstituts Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) spricht dagegen von „Licht und Schatten“: Zum einen sei die Klimaschutz-Quote von 30 Prozent der 1,8 Billionen Euro „mehr, als im Vorfeld manche zu hoffen gewagt haben“, sagte sie Watson. Es sei andererseits aber „weniger, als für den Umbau der Wirtschaft in Richtung der für 2050 angekündigten Klimaneutralität benötigt wird“. Barbara Mariani, Senior Policy Officer am Europäischen Umweltbüro (EEB), einer Umweltschutz-NGO mit Sitz in Brüssel, kritisiert, die Klimaschutz-Vorgaben im Billionenpaket der EU seien schlichtweg zu wenig genau.

Mariani fordert „bindende Klimaschutzziele“ in den einzelnen EU-Staaten – und „einen klaren Zeitplan“, um aus der Nutzung fossiler Brennstoffe auszusteigen.

Das sagt die deutsche Politik

Außenminister Heiko Maas (SPD) hat die Einigung der EU-Staaten auf ein Finanzpaket begrüßt. „Auch wenn der Anlauf lang war: Am Ende sind wir weiter gesprungen, als uns viele zugetraut haben“, sagte der SPD-Politiker am Dienstag. „Die Europäische Union zeigt, dass sie auch in der schwersten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte in der Lage ist, entschlossen und solidarisch zu handeln.“
Das sei ein „starkes Fundament“, um alle Bürger in Europa gut durch diese Krise zu bringen. Maas reist am Dienstag nach nach Griechenland und Großbritannien. In Athen will er unter anderem über Migrationsfragen sprechen.

Der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch, hat das Ergebnis des EU-Sondergipfels kritisiert. De historische Gelegenheit, die Europäische Union mehr zusammenzuführen, sei „unter nationalen Egoismen begraben“ worden, sagte Bartsch den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Mittwochsausgaben). Die EU gehe nach diesem Gipfel den Weg des kleinsten gemeinsamen Nenners.

SPD-Chef Norbert Walter-Borjans hat nach dem EU-Sondergipfel in Brüssel eine gemischte Bilanz gezogen. Nach dem Gipfel-Marathon gebe es „viel Licht, aber auch Besorgnis“, schrieb er am Dienstag bei Twitter. Es sei um viel Geld, wenig Zeit und grundlegende Werte gegangen. Die Einigung der EU-Staaten auf ein Finanzpaket sei gut und für alle enorm wichtig. Allerdings seien Europas Werte „arg strapaziert“. Das gelte für Solidarität, besonders aber für Rechtsstaatlichkeit als deren offenbar „nicht für alle selbstverständliche Grundlage“.

Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und stellvertretende FDP-Parteivorsitzende, Nicola Beer, hat die Einigung beim EU-Gipfel als „durchwachsenes Ergebnis“ bezeichnet. „Es gibt begrüßenswerte, aber auch viele kritische Elemente. Das Europäische Parlament darf den Kompromiss daher nicht einfach durchwinken, sondern muss nachverhandeln“, sagte Beer am Dienstag.

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hat sich unzufrieden über den Ausgang des EU-Sondergipfels geäußert. „Das Ergebnis ist eine Bürde für die Zukunft Europas“, sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Mittwochsausgaben). „Mitten in der Coronakrise weniger Geld für Gesundheit, Forschung und auch Klimaschutz vorzusehen, ist nicht sparsam, sondern dumm.“ Österreich, Niederlande, Dänemark, Schweden und Finnland hätten sich „von nationalen Egoismen treiben lassen“, Ungarn „Erpressungsversuche“ unternommen.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hat die Beschlüsse des EU-Gipfels als Richtungsentscheidung für eine stärkere europäische Integration begrüßt. „Krisen sind im griechischen Ursprung des Wortes Momente der Entscheidung. Die Tage von Brüssel waren ein solches Momentum der Entscheidung“, sagte Laschet der „Welt“ (Mittwochsausgabe).

Autor: dts