Essen | Bevor Johanna Wokalek zu spielen beginnt, muss sie erst einmal den Kleiderhaufen erklettern und sich richtig positionieren. Schließlich wird sie von diesem Platz aus einen einstündigen Monolog halten, da ist die korrekte Sitzposition wichtig. An diesem Samstag schlüpft die Schauspielerin in der Essener Philharmonie in die Rolle der Eurydike – jener mythologischen Figur, die nach ihrem eigenen Tod von ihrem Bräutigam Orpheus aus der Unterwelt gerettet werden soll. Die Textvorlage stammt von der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die das Stück mit dem Titel „Schatten“ exklusiv für den „Sommernachtstraum“-Abend der Essener Philharmonie geschrieben hat.

Wokalek ist durch Rollen in Filmen wie „Der Baader Meinhof Komplex“ und „Die Päpstin“ bekannt geworden. In dem Jelinek-Stück wird ein Blick in die Psyche der Eurydike geworfen – was empfindet jene Frau, die nach einem Schlangenbiss gestorben ist und von ihrem musikalisch talentierten Geliebten aus dem Hades gerettet werden soll? Wie steht es um ihre Selbstbestimmung, um ihre Wünsche und Befindlichkeiten?

Durchaus mit Lust am theoretischen Überbau bürstet Jelinek das klassischen Eurydike-Bild von der zu rettenden Geliebten gegen den Strich. Das Verhältnis des Paares ist alles andere als ungetrübt, der Mann ein umjubelter Popstar und Mädchenschwarm, die Gattin eine Autorin, die im Schatten ihres Mannes steht. Über Lust, Liebe, Konsumrausch spricht Eurydike. Besonders bedauert sie, dass sie ihre schönen Kleider nun nicht mehr braucht: „Der Abschied von meinen Kleidern ist fast schlimmer als der von meinem Sänger“, sagt sie.

Protagonistin wird zum Schatten

Die Welt der Menschen – so spricht Eurydike im Geiste Jelineks – ist nichts, was frau wirklich vermissen müsste. Der Tod und das Hinabsteigen in die Unterwelt ist für Eurydike so etwas wie ein Zufluchtsort – der Körper bleibt zurück, die Protagonistin wird zum Schatten. Dass dann noch ihr Gatte kommt, um sie aus dem Hades zurückzuholen, passt ihr gar nicht. Auch die Motive für sein Handeln sind alles andere als selbstlos – ist der Mann doch vor allem „verliebt in den Verlust, verliebter als in mich“. Ein Glück, dass der PR-süchtige Orpheus zum Fotohandy greife, um auf dem Rückweg aus der Unterwelt von seiner Gattin einen Schnappschuss zu machen. Eurydike kann im Hades bleiben, darf weiter Schatten sein. „Am schönsten ist es, nichts zu sein“, lautet einer ihrer letzten Sätze.

Darstellerin Wokalek, die in einem roten Kleid auftritt, gibt der Zerrissenheit in der Seele der Eurydike eine glaubhafte Stimme. Durch die durchgängige Position auf dem Kleiderhaufen wird das ganze Geschehen allerdings zu sehr auf einen Platz konzentriert. Unterstützt wird der Monolog Wokaleks von einer überdimensionalen Leinwand, die unter anderem Blätterwerk und Schatten zeigt – jeweils als Stationen im Sterben und Nachleben der Eurydike. Die Schauspielerin bleibt die gesamte Zeit in der sitzenden Position, zudem hält sie in der linken Hand das Textbuch. Ihr Spiel lebt allein von der Kraft der Stimme, Gestik und Mimik.

Dabei gleiten die Textpassagen des Jelinek-Stücks bisweilen ins allzu Diskurshafte ab, geben dem Gesagten einen zwanghafte Duktus. Der Applaus nach dem Ende der Uraufführung fällt kräftig aus, auch einige Bravo-Rufe sind zu hören, doch so richtig warm scheint das Publikum mit dem Stück nicht geworden zu sein. Deutlich euphorischer wurde dagegen die erste Etappe des „Sommernachtstraums“ in Essen aufgenommen. Dirigent Thomas Hengelbrock führte mit namhaften Solisten und dem Balthasar-Neumann-Ensemble Claudio Monteverdis Oper „L’Orfeo“ auf. Zum Abschluss des Abends gab es dann noch eine Choreografie des Aalto Balletts, in der die menschlichen Grunderfahrungen von Liebe und Verlust tänzerisch vorgeführt wurden.

Autor: Michael Bosse, dapd | Foto: PE, Sven Lorenz
Foto: Symbolbild: Die Philharmonie in Essen