Wien | Österreichs Bundeskanzler Christian Kern hat sich für ein EU-weites Verbot von Wahlkampfauftritten türkischer Politiker ausgesprochen. „Eine gemeinsame Vorgehensweise der EU, um solche Wahlkampfauftritte zu verhindern, wäre sinnvoll. Damit nicht einzelne Länder wie Deutschland, in denen Auftritte untersagt werden, unter Druck der Türkei geraten“, sagte Kern der „Welt am Sonntag“.

Kern kritisierte mit Blick auf die geplante Verfassungsänderung in der Türkei, dass „die Einführung eines Präsidialsystems den Rechtsstaat in der Türkei noch weiter schwächen, die Gewaltenteilung einschränken und den Werten der Europäischen Union widersprechen würden“. Türkische Regierungsvertreter planen in mehreren EU-Staaten, wie Deutschland und der Niederlande, bis zum Tag der Abstimmung am 16. April für die Verfassungsreform in ihrem Land zu werben. Angesichts der anhaltenden Verhaftungswelle forderte Kern den türkischen Staatspräsidenten persönlich zum Einlenken auf: „Präsident Erdogan muss endlich auf den Boden der Rechtsstaatlichkeit zurückkehren, von dem er sich zuletzt immer weiter entfernt hat.“

Der Regierungschef aus Wien warf Ankara vor, „Menschenrechte und demokratische Grundrechte mit Füßen“ zu treten. Pressefreiheit sei ein Fremdwort in dem Land am Bosporus. Das zeige auch die Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel und weiterer Journalisten und Wissenschaftler.

„Das ist schockierend“, sagte Kern. Yücel habe unabhängig und kritisch über die Türkei berichtet. „Die Türkei muss Herrn Yücel umgehend frei lassen. Wir erwarten, dass Ankara eine Minimaldosis an Rechtsstaatlichkeit einhält.“ Kern bekräftigte in diesem Zusammenhang seine Forderung nach einem sofortigen Abbruch der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei: „Wir sollten die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht nur vorübergehend aussetzen, sondern beenden. Wir können nicht weiter mit einem Land über eine Mitgliedschaft verhandeln, das sich seit Jahren Schritt für Schritt von demokratischen Standards und rechtsstaatlichen Prinzipien entfernt.“ Auch die Vorbeitrittshilfen von 4,5 Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 sollten umgehend gestrichen oder als Druckmittel für politische Reformen verwendet werden.

„Wir sollten die Beziehungen zur Türkei neu ausrichten, ohne die EU-Beitrittsillusion“, so Kern. Mit Blick auf die Flüchtlingskrise lehnte Kern die Errichtung von Auffanglagern in Libyen ab: „Rückführungen von Migranten nach Libyen sind für mich derzeit unrealistisch, denn die politische Lage dort ist viel zu instabil. Es sollte aber möglich sein, Flüchtlinge aus Libyen aufzugreifen und über das Mittelmeer nach Marokko und Ägypten zu bringen. Dort könnten europäische Richter in Verfahrenszentren, die vom UNHCR kontrolliert werden, über ihre Schutzbedürftigkeit entscheiden.“ Wer Anspruch auf Asyl habe, könne dann auf sicherem Wege nach Europa gelangen. Österreichs Bundeskanzler kritisierte, dass die EU-Außengrenzen immer noch ungenügend geschützt seien: „Das, was bisher beschlossen wurde, wird im Ernstfall mit Sicherheit nicht ausreichen“. Er forderte eine stärkere „Europäisierung“ des Grenzschutzes: „Sollte ein EU-Land oder ein befreundeter Drittstaat auf dem Balkan wegen hoher Flüchtlingszahlen Unterstützung bei der Grenzsicherung anfordern, so sollte er diese im Rahmen eines europäischen Assistenzeinsatzes durch Soldaten aus Nachbarstaaten auch problemlos erhalten können. Österreich hat das im Falle der serbisch-ungarischen Grenze bereits gemacht und es funktioniert. Der Schutz der Außengrenzen durch Soldaten aus verschiedenen Ländern, die schnell verfügbar wären, kann eine deutliche Verbesserung gegenüber der jetzigen Situation bedeuten.“

Autor: dts