Köln| Influencer sagen uns, was wir kaufen müssen. Marie Kondo entscheidet, was davon weg soll. Was sich daraus entwickelt? Eine perverse Konsumschizophrenie der westlichen Welt. Die Koproduktion von Kollektiv Plakativ und Studiobühne Köln begibt sich in „All I Need“ mit Witz, Charme und Treuepunkten auf eine dionysische Reise durch die menschlichen Bedürfnisse und ihre Befriedigungen.

Weiße Sneaker, Tennissocken und in Perlmutt oszillierender Trainingsanzug – sie sind gekleidet wie die Mode-Ikonen heutiger Teenager. Nicht zu vergessen: die transparente Bauchtasche. Während die Schauspielerin Olja Artes „You know too much. Too much. Too much. Too much“ obszön ins Mikrophon raunt und mit ihrem Zeigefinger den Takt anklopft, stolzieren Alessandro Grossi und Alina Rohde abwechselnd auf dem imaginierten Catwalk. Hier ist nichts „too much“: Das Kostüm sitzt nicht nur, es erzählt auch für sich schon so viel. Die Bewegungen tun ihr Übriges.

Maria Magdalena vs. Marie Kondo

Es sind intensive 60 Minuten für das Premierenpublikum. Sie werden mitgerissen, in die transparenten Ankleidekabinen der drei jungen Schauspieler, die sich in ihnen transformieren. Mal sind sie Sammlerinnen von Briefmarken, Erinnerungen und Weisheiten. Mal sind sie Singles, die sich eine Analdusche ins Bad installieren und aus alten Handtüchern Lappen schneiden. Der Umwelt und den Walen voller Plastik zuliebe. Dann sind sie ein Liebespaar wie jedes andere, das zusammen die Wohnung ausmistet.

Ihre Kleidung ist zu einer langen Kette zusammengebunden. Ärmel an Ärmel an Ärmel. Grossi und Artes sind auf der Flucht aus dem Konsum-Gefängnis. Doch der Haufen Wäsche, der sich vor ihnen türmt, holt sie wieder ein. Olja Artes wickelt sich ein in die textile Hölle und kommt empor als Jungfrau Maria, die ein Kind aus T-Shirts und Blusen auf dem Arm trägt. Erlösung bringt nur die japanische Ordnungsberaterin Marie Kondo, gespielt von Alina Rohde, die mit ihren Weisheiten zum Ausmisten beim Publikum für Gelächter sorgt. Der transparente Vorhang wird zum Gewand. Das YouTuber-Ringlicht zum Heiligenschein. Genialer Einfall.

Von süßem Grießbrei und Gulaschtöpfen

Gerahmt sind diese schlaglichtartigen Szenen in einem Märchen der Gebrüder Grimm: „Der süße Brei“ erzählt von Überfluss und Kontrollverlust. Textlich ist das vielleicht nicht das Innovativste, für viele gar zu offensichtlich. Aber es kommt an. Nicht nur beim Bildungsbürgertum. So überrascht es nicht, dass auch drei Kassiererinnen zu Wort kommen, mit ihren einfachen Ansichten und Träumen vom nächsten Spanien-Urlaub bei der Zigarettenpause. Ihr kölscher Dialekt sorgt für Authentizität und Lacher.

Gelächter gibt es viel an diesem Abend, besonders, wenn sich das Publikum selbst als Konsumopfer entlarvt. Da geht es um die verstorbene „Omma“ und ihren materiellen Nachlass. Unter anderem 200 Biergläser und ein Gulaschtopf. Zwar ist dieser nicht für neumodische Induktionsherde geeignet, aber da hängt doch so viel Erinnerung dran.

„Ausmisten ist wie Konsumieren. Nur geiler.“

Trotz Carolin-Kebekus-Komik hat „All I Need“ seine ganz bestimmten kathartischen Momente. Wenn sich die zwei Frauen durch die Kabine hindurch über ihre Sexualität unterhalten, die durch die superlative Erwartungshaltung nur enttäuschen kann. Höher, schneller, weiter. Am Ende sind wir eines. Abgestumpft. Die Porträts von Aussteigerinnen, Kassiererinnen und dubiosen Aufräum-Gurus könnten unterschiedlich nicht ausfallen.

Am Ende entscheidet jeder selbst, wann man „Töpfchen, steh!“ ruft. An diesem Abend rufen die Zuschauerinnen und Zuschauer eines: Beifall. Und das ganz berechtigt für diese solide Leistung, die wirklich sehenswert ist.

[infobox]„All I Need“ die nächsten Vorstellungen: 16. bis 18. Oktober, jeweils 20 Uhr. Studiobühne Köln. Universitätsstr. 16a, 50937 Köln. Tickets unterwww.studiobuehnekoeln.de und 0221 470 4513.

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Autor: Von Bettina Freund
Foto: Alina Rohde, Olja Artes und Alessandro Grossi (v.l.), nehmen die Zuschauer mit auf eine schizophrene Reise zwischen Konsum und Verzicht. Foto: Ingo Solms.