Bundesfinanzminister und FDP-Chef Christian Lindner am 29. Oktober 2024. | Foto: via dts nachrichtenagentur

Berlin | Artikel ergänzt und aktualisiert | In der Ampelkoalition kursiert ein neues 18-seitiges Grundsatzpapier, in dem Finanzminister Christian Lindner (FDP) eine „Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen“ fordert, um erklärtermaßen „Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden“. Der Finanzminister drängt darin auf mehrere Sofortmaßnahmen und lehnt Änderungen an der Schuldenbremse sowie neue Sondervermögen strikt ab, berichtet der „Stern“.

Forderungen

Das Schreiben enthält Forderungen, die in der Koalition bislang als unverhandelbar galten. So fordert Lindner den sofortigen Einstieg in die Abschaffung des Solidaritätszuschlags und substantielle Änderungen an laufenden Gesetzesvorhaben, um Industrie und Mittelstand zu entlasten. „Die deutsche Wirtschaft benötigt umgehend neuen finanziellen und regulatorischen Spielraum, um auf ihre veränderten Rahmenbedingungen eigenverantwortlich reagieren zu können“, schreibt der FDP-Chef.

„Als Sofortmaßnahme sollte der Solidaritätszuschlag, der überwiegend von Unternehmen, Selbständigen, Freiberuflern sowie Hochqualifizierten gezahlt wird, entfallen“, heißt es. „Verfassungsrechtliche Bedenken sowie die alleinige Entscheidungsfreiheit des Bundes ohne Beteiligung des Bundesrates legen dies nahe. Er sollte in einem ersten Schritt im Jahr 2025 um 2,5 Prozentpunkte auf 3 Prozent abgesenkt werden. In einem zweiten Schritt könnte er im Jahr 2027 dann vollständig entfallen.“

Körperschaftssteuer

Begleitend bringt Lindner eine Senkung der Körperschaftssteuer ins Spiel. „Um die Glaubwürdigkeit dieser Politik zu stärken, sollte zudem die Körperschaftsteuer in einem ersten Schritt unmittelbar im Jahr 2025 signifikant um zwei Prozentpunkte reduziert werden. Die weiteren Schritte sollten spätestens in 2027 und 2029 folgen.“

Stopp der Regulierungen

Für einen beschleunigten Bürokratieabbau drängt Lindner auf ein „sofortiges Moratorium zum Stopp aller Regulierungen“ für die nächsten drei Jahre. Betroffen wären demnach auch Gesetze, die die Koalition noch plant und vor allem von der SPD vorangetrieben werden. „Neue Gesetzesvorhaben sollten entweder ganz entfallen oder, wo dies nicht möglich ist, so ausgestaltet sein, dass Bürokratie und Regulierung durch das Vorhaben sinken und keinesfalls steigen. Das gilt insbesondere für die vom Bundesminister für Arbeit und Soziales vorgelegte Fassung des Tariftreuegesetzes, für das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das Entgelttransparenzgesetz, das Beschäftigtendatengesetz und die arbeitgeberfinanzierte Familienstartzeit“, so Lindner. „Sie alle passen in der aktuell diskutierten Form nicht zu den Herausforderungen des aktuellen wirtschaftlichen Umfelds.“

Sensibler Zeitpunkt

Das Papier kommt zu einem äußerst sensiblen Zeitpunkt, weil sich die Koalitionspartner in der Wirtschaftspolitik völlig verhakt haben und in der Ampel der Glauben daran schwindet, dass sie bis zum Ende der Legislaturperiode hält. Das Schreiben Lindners liest sich auch als Zumutung für die Grünen: Ohne Wirtschaftsminister Robert Habeck namentlich zu nennen, knöpft sich Lindner dessen wirtschaftspolitische Vorstellungen vor.

Nationale Klimaziele

Lindner stellt zudem die nationalen Klimaziele in Frage. „Es hilft dem Klimaschutz nicht, wenn Deutschland als vermeintlicher globaler Vorreiter möglichst schnell und folglich mit vermeidbaren wirtschaftlichen Schäden und politischen Verwerfungen versucht, seine Volkswirtschaft klimaneutral aufzustellen“, schreibt der Minister.

Die aktuellen Klimaziele sind die Folge eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts, in dem 2021 festgestellt wurde, dass die Bundesregierung nach Artikel 20a des Grundgesetzes hohe Emissionsminderungslasten zur Einhaltung des Pariser Klimaabkommens nicht unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030 verschieben darf. Ähnliche Urteile gibt es auch in anderen Ländern, wie etwa in den Niederlanden, Frankreich, Neuseeland und Großbritannien. Die Maßstäbe aus einem im April gefällten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Schweiz könnte zudem zu einer weiteren Verschärfung der Klimaziele für Deutschland führen.

Klöckner kritisiert Lindner-Papier zur Wirtschaftspolitik 

Die Wirtschaftspolitikerin Julia Klöckner (CDU) hat den Zustand der Ampel-Koalition nach dem neuesten Vorstoß von Finanzminister Christian Lindner (FDP) zur Wirtschaftspolitik scharf kritisiert. „Es wird immer unübersichtlicher – jeder bringt sein Positionspapier raus, jeder hat seine eigenen Wirtschaftsrunden, aber nichts passt zusammen“, sagte Klöckner den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Samstagausgaben). „Es ist einfach absurd und unwürdig für ein Land mit einer solchen Volkswirtschaft, wie seine Regierung sich benimmt.“

Die wirtschaftspolitische Sprecherin der Unionsfraktion stellte den Fortbestand der Ampel infrage. „Entweder die Drei reißen sich jetzt zusammen und kommen endlich ins Machen – wofür sie bezahlt werden – oder der Kanzler beendet den Spuk“, sagte Klöckner. „Aber so laufen lassen, das ist unverantwortlich.“

In dem Grundsatzpapier fordert Lindner eine „Neuausrichtung“ der Wirtschaftspolitik in Deutschland. Das Papier enthält Forderungen, die auf den Widerstand von SPD und Grünen stoßen dürften.

Nouripour äußert sich skeptisch zu Lindner-Papier

Grünen-Chef Omid Nouripour hat skeptisch auf das neue Grundsatzpapier von Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner zur Wirtschaftspolitik reagiert. „Wir Grüne sind jederzeit bereit, ernst gemeinte Vorschläge der Koalitionspartner zum Wohle unseres Landes zu diskutieren“, sagte Nouripour dem Nachrichtenportal „T-Online“ am Freitag. „Zum Ergebnis kommt man am Ende dann, wenn die Vorschläge der Ernsthaftigkeit der Lage gerecht werden.“

Grünen-Fraktionsvize nennt Lindner-Papier „Nebelkerze“

Der Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch hat Christian Lindner und sein neues Grundsatzpapier kritisiert. „Das Papier ist eine Nebelkerze“, sagte Audretsch dem Nachrichtenportal „T-Online“ am Freitag.

„Wichtiger wäre es, dass sich der Finanzminister um den Haushalt kümmert. Die Lindner-Lücke liegt schon jetzt im zweistelligen Milliardenbereich. Nun schlägt der Finanzminister vor, die Lindner-Lücke um einen weiteren hohen Milliarden-Betrag zu vergrößern.“ Das funktioniere in FDP-Beschlüssen, nicht in der Wirklichkeit.

Der Haushalt sei die zentrale Aufgabe des Finanzministers, so Audretsch. „Es wäre wichtig für das Land, dass sich der Finanzminister nun ernsthaft dieser Verantwortung stellt und konstruktive Vorschläge macht.“

Harte Kritik aus der SPD an Lindners Wirtschafts-Papier

Mit massiver Kritik hat die SPD-Bundestagsfraktion auf das neue Grundsatzpapier von Finanzminister Christian Lindner (FDP) reagiert. „Wir brauchen jetzt keine Papiere, sondern gemeinsames Handeln, um der Industrie schnell zu helfen und Sicherheit zu geben“, sagte der arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sprecher der Fraktion, Martin Rosemann, dem „Tagesspiegel“ (Samstagausgabe). „Vor allem brauchen wir keine Opposition in der Regierung.“

Als „neoliberale Phrasendrescherei“ bezeichnete Nils Schmid (SPD), der frühere Finanz- und Wirtschaftsminister von Baden-Württemberg, das Papier. Der FDP-Minister bleibe Antworten schuldig zu den drängenden Fragen, wie Industriearbeitsplätze über einen gesenkten Strompreis für energieintensive Branchen erhalten werden könnten. Und dort, wo Lindner konkret werde, sei das Papier „nicht vereinbar mit Koalitionsvertrag“.

Auch von Haushältern kommt Kritik. „Einige Tage vor der US-Wahl und der Erstellung des Bundeshaushalts sollte der Finanzminister nicht einen öffentlichen, unabgestimmten Überbietungswettbewerb an großteils nicht finanzierten Wohltaten starten und für Unsicherheit im Land sorgen“, kritisierte der Haushaltspolitiker Andreas Schwarz (SPD). „Es wäre sinnvoller, die Kraft würde für die noch offenen Fragen im Bundeshaushalt 2025 verwendet werden.“

Hinsichtlich des parallel von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geplanten „Pakts für die Industrie“ sagte Schwarz weiter, dass das Nebeneinander verschiedener Vorschläge aus der Regierung schädlich sei. „Wenn jetzt jeder sein Ding macht, kann man nicht erwarten, dass am Ende etwas Großes rauskommt – der deutsche Wahlkampf ist erst nächstes Jahr.“

Lindner-Papier: Miersch mahnt zu Konstruktivität

SPD-Generalsekretär Matthias Miersch hat die Koalitionspartner aufgefordert, für die Stabilisierung der Wirtschaft „konstruktiv und lösungsorientiert“ zusammenzuarbeiten. „Der Kanzler hat die Stabilisierung des Wirtschaftsstandortes zur Chefsache gemacht“, sagte Miersch den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Samstagausgaben).

„Nach dem Wirtschaftsminister bringt nun auch der Finanzminister seine Vorschläge in die Debatte ein. Wichtig ist jetzt, dass der Prozess konstruktiv und lösungsorientiert von allen Beteiligten begleitet wird“, mahnte Miersch.

Nach Lindner-Papier: Union fordert Neuwahlen

Nach der Vorlage des Wirtschaftspapiers von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) fordert die Union Neuwahlen in Deutschland. „Es wird Zeit, dass die Regierung endlich den Weg frei macht zu Neuwahlen“, sagte Parlamentsgeschäftsführer Thorsten Frei (CDU) der „Rheinischen Post“ (Samstagausgabe). „Es wäre der letzte Dienst, den sie unserem Land erweisen könnte.“

Das Dokument sei „die ultimative Scheidungsurkunde“, so Frei. „Nach dieser Klatsche kann Olaf Scholz wohl kaum zur Tagesordnung übergehen.“ Lindner analysiere nicht nur „messerscharf die verheerende ökonomische Situation unseres Landes, sondern zeigt mit seinen angebotspolitischen Lösungsvorschlägen auch schonungslos die Sollbruchstellen der Koalition auf“.

Zurecht positioniere sich der FDP-Chef gegen die grundsätzlichen Ausrichtungen der Ampel und stelle mehrere Gesetzesvorhaben infrage, die bereits angelaufen seien. „In dieser Chaos-Koalition passt nichts mehr zusammen“, sagte Frei.


Mit Material der dts nachrichtenagentur