Istanbul/Ankara | aktualisiert | Nach dem gescheiterten Umsturzversuch durch Teile des Militärs in der Türkei ist die Zahl der Festnahmen auf rund 6.000 gestiegen. Diese Zahl werde sich jedoch noch weiter erhöhen, sagte der türkische Justizminister Bozdag der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntag. Zu den Festgenommenen zählen auch rund 2800 Militärangehörige, allein 34 Generäle sind verhaftet worden. Die Bundeswehr wird ihren Flugbetrieb in Incirlik wieder aufnehmen und Bundesjustizminister Maas warnt Erdogan vor einer Gefährdung der Beitrittsverhandlungen.

Zudem wurden landesweit 2700 Richter entlassen. Zuvor hatte Präsident Erdogan angekündigt, als Reaktion auf den Umsturzversuch das Militär zu säubern. Zudem wolle er die Wiedereinführung der Todesstrafe prüfen.

Erdogans Militärberater festgenommen

Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei ist auch der Militärberater von Präsident Erdogan, Ali Yazici, festgenommen worden. Das berichtete der Fernsehsender CNN Türk am Sonntag. Die Entscheidung zur Festnahme kam demnach direkt von Erdogan.

Yazici soll an dem Putsch beteiligt gewesen sein. Zuvor hatte es bereits mehrere Tausend Festnahmen im Militär- und Justizapparat der Türkei gegeben. Erdogan sprach vor Anhängern in Istanbul von „Metastasen“, die „wie ein Krebsvirus den ganzen Staat befallen“ hätten.

Bundeswehr soll wieder Flugbetrieb in Incirlik aufnehmen

Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat angekündigt, dass die Bundeswehr auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik ab Montag wieder ihren „normal Flugbetrieb“ aufnehmen wird. „Ich bin erleichtert, dass es allen unseren Soldatinnen und Soldaten gut geht. Nach den Ereignissen von Samstagnacht wurde die Sicherheitsstufe für das gesamte Areal weiter erhöht. Wir planen, dass am Montag der normale Flugbetrieb mit den Aufklärungstornados und dem Tank-Airbus wieder aufgenommen werden kann“, sagte von der Leyen der „Rheinischen Post“ (Montagausgabe). Die Ministerin betonte: „In Incirlik ist am Wochenende schnell wieder Ruhe eingekehrt. Außer einem Stromausfall und Flugbewegungen auf der türkischen Seite der Luftwaffenbasis hatten die Unruhen der Nacht keine Auswirkungen.“

Auf die Frage, ob der Putschversuch Auswirkungen auf die künftige Zusammenarbeit von Bundeswehr und türkischem Militär habe, sagte von der Leyen: „Das werden die nächsten Wochen zeigen. Unserer wichtiger NATO-Partner Türkei braucht starke, aber auch voll demokratisch kontrollierte Streitkräfte.“ Es sei ein gutes Zeichen, dass in den dunklen Stunden die demokratisch gewählten Parteien geschlossen gegen die Putschisten zusammengestanden hätten.

„Ich kann nur hoffen, dass Demokratie und Rechtstaatlichkeit in der Türkei jetzt den Platz bekommen, den sie brauchen.“ Das Land müsse enorme Herausforderungen bewältigen, „den brutalen Terror im Inland, die Kriege an den Grenzen und Millionen Flüchtlinge, die in der Türkei Schutz suchen“.

Maas warnt Erdogan vor Gefährdung der EU-Beitrittsverhandlungen

Nach dem Putschversuch in der Türkei hat Bundesjustizminister Heiko Maas den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan davor gewarnt, die Beitrittsverhandlungen mit der EU zu gefährden. „Präsident Erdogan sollte klar sein: Es gibt für die Türkei keinen Rabatt“, sagte der SPD-Politiker den Zeitungen der „Funke-Mediengruppe“. „Wer Grundrechte und Gewaltenteilung einschränkt, der entfernt das Land von den Grundwerten der EU. Und wenn der Rechtsstaat durchlöchert wird, dann wird die EU in den Verhandlungen dazu sicher nicht schweigen.“

Maas nannte Mutmaßungen, der Umsturz sei womöglich inszeniert gewesen, einen „sehr schwerwiegenden Verdacht“. Klar sei aber, so Maas: „Niemand sollte den Putschversuch für autoritäre Zwecke missbrauchen.“ Nur wenn der Militärcoup rechtsstaatlich aufgearbeitet werde, könne eine weitere Spaltung der türkischen Gesellschaft vermieden werden.

Der SPD-Politiker betonte, der Rechtsstaat in der Türkei dürfe nicht noch schwerer beschädigt werden. „Rache und Willkür sind das Gegenteil einer rechtsstaatlichen Aufarbeitung“, sagte er. „Die Türkei braucht weder eine Militärputsch noch autoritäre Strukturen.“

Das werde alles nicht zu einer Befriedung des Landes beitragen. „Stattdessen müssen die demokratischen Kräfte im Land gestärkt werden“, forderte er.

Altmaier sieht Flüchtlingsabkommen nicht in Gefahr

Der Putschversuch in der Türkei wird nach Ansicht von Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) das Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei nicht gefährden. Altmaier sagte der „Saarbrücker Zeitung“ (Montagausgabe): „Es gibt bislang keinen Anhaltspunkt dafür, dass das Abkommen in Gefahr sein könnte.“ Beide Seiten müssten ihre Verpflichtungen weiterhin erfüllen, ergänzte der Minister.

„Das werden sie auch tun.“ Zugleich betonte Altmaier, die Bundesregierung habe schon vor dem Putschversuch auf Entwicklungen in der Türkei hingewiesen, „die uns besorgt haben. Insbesondere in Hinblick auf die Pressefreiheit und den Umgang mit der Opposition.“

Allerdings verfüge der Rechtsstaat im Land über kräftige Wurzeln. „So leicht wird er von niemandem beseitigt werden können“, sagte Altmaier. Auf die Frage, ob Präsident Erdogan noch ein verlässlicher Partner sei, antwortete der Kanzleramtsminister, die Türkei befände sich derzeit in einer schwierigen innenpolitischen Situation, weil es im Land Spaltungen und Konflikte gebe.

„Ich hoffe sehr, dass alle Beteiligten ihre Verantwortung für die demokratischen Strukturen beachten und entsprechend handeln“, so Altmaier.

Roth zweifelt an Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei

Bundestagsvizepräsidenten Claudia Roth (Grüne) hat nach dem gescheiterten Umsturzversuch das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der EU in Zweifel gezogen. „In dieser Zeit des Chaos und der Unsicherheit müssen die bestehenden Abkommen mit der Türkei in Bezug auf die Flüchtlingspolitik in Frage gestellt werden“, sagte Roth der „Welt“. „Es zeigt sich nun, dass die Staaten der EU einem Irrglauben unterliegen, wenn sie erwarten, dass ein Land wie die Türkei unsere eigenen Probleme lösen kann“, sagte Roth.

Die EU müsse ihre Hausaufgaben schon selbst erledigen und sich „endlich zu einer humanitären, fairen, solidarischen und vernünftigen eigenen Flüchtlingspolitik zusammenraufen“. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Niels Annen, sagte der „Welt“, die Türkei müsse sich jetzt erst einmal finden. „Ich halte deshalb nichts von überstürzten Reaktionen seitens der Bundesregierung oder der EU.“

Allerdings müsse die EU nachhaltige Signale setzen. „Wir müssen der Türkei sehr klar machen, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe kein akzeptable Reaktion für ein Land sein kann, dass der EU eines Tages angehören möchte“, sagte Annen. Die Meldungen aus der Türkei seien „besorgniserregend“, sagte Annen weiter.

„Die hohe Anzahl von Anklagen deutet darauf hin, dass da jemand auf die Gelegenheit gewartet hat, seine Gegner auszuschalten.“ Auch Roth befürchtet, Präsident Recep Erdogan werde den Putschversuch nutzen, um seine Macht auszubauen. „Die Situation in der Türkei bleibt weiter dramatisch gefährlich, weil die reale Gefahr besteht, dass Erdogan den Umgang mit dem Putschversuch nun für seine Zwecke missbrauchen wird.“

Steinmeier: Putschversuch ist „Weckruf für türkische Demokratie“

Außenminister Frank-Walter Steinmeier an den Putschversuch in der Türkei als „Weckruf“ für die Demokratie bezeichnet. „Bei allem Schrecken ist aber auch deutlich geworden, dass die türkische Gesellschaft nicht erneut unter dem Joch einen Militärdiktatur leben und demokratisch über ihre Zukunft entscheiden will“, sagte Steinmeier am Sonntag. Es bleibe dabei „außerordentlich bitter, dass das Abenteurertum einiger Militärs und ihre Verachtung für demokratische Prozesse so viele Menschenleben gekostet hat“.

Er hoffe, dass „die in höchster Not und Bedrängnis gezeigte demokratische Einheit aller maßgeblichen zivilen und politischen Kräfte in der Türkei dazu beitragen kann, die großen Spannungen und tiefen Gräben in der türkischen Gesellschaft zu überwinden“. Wichtig sei, dass sich alle Beteiligten ihrer großen Verantwortung für die türkische Demokratie und ihre Verfassungsordnung bewusst blieben und auch dass bei der jetzt notwendigen juristischen Aufarbeitung alle rechtsstaatlichen Grundsätze beachtet würden, so Steinmeier.

Autor: dts