Berlin | Der Terminhinweis an die Presse ist kurz und knapp : „Statement von Bundeskanzlerin Angela Merkel, 16.05.2012, 16:30 Uhr“. Da ist es 15.19 Uhr am Mittwoch. Bis dahin ist der Tag vor Christi Himmelfahrt politisch betrachtet eher ruhig verlaufen in der Bundeshauptstadt – quasi ein erstes Durchatmen nach der Hektik um die beiden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen.

Im Bundestag waren die Gänge mittags bereits leer, einige verbliebene Abgeordnete hetzten, um die Flugzeuge in die Heimat zu erwischen. Auch in der Unionsfraktion deutete noch am frühen Nachmittag nichts auf den politischen Urknall hin, der am Morgen – unbemerkt von der Öffentlichkeit – seinen Lauf genommen hatte.

Nach dem Eintreffen der Mail ist jedoch klar: Es ist etwas passiert in Berlin. Ein kurzfristiges Statement Merkels im Kanzleramt ohne Nennung des Inhalts ist sehr, sehr selten. Die offiziellen Stellen der Bundesregierung rücken nichts raus. Auch aus den so genannten „gut informierten Kreisen“ sickert erst nach und nach durch, dass es um Bundesumweltminister Norbert Röttgen geht. Schließlich ist zumindest eines vor dem Auftritt Merkels klar: Röttgen muss seinen Posten räumen.

Rückblick auf den Wochenbeginn

Das kam überraschend. Noch am Montag hatte die CDU-Vorsitzende an Röttgen als Umweltminister festgehalten und von einer „Kontinuität der Aufgabenerfüllung“ gesprochen, die wichtig sei, um die Energiewende zu stemmen. Am Montagabend ließ dann CSU-Chef Horst Seehofer seinem Unmut über Röttgen in einem langen Interview des „heute-journals“ freien Lauf. Der bayerische Ministerpräsident nannte den Wahlausgang in NRW „für die Union eine politische Katastrophe, die mich wirklich aufwühlt. Es ist ein Desaster mit Ansage“. Auch stellte er das Gelingen der Energiewende infrage. Der bayerische Löwe brüllte – und es hallte bis Berlin.

Am Dienstag nahm sich Merkel Röttgen zur Brust und legte ihm einen Rücktritt nahe. Die beiden stritten miteinander. Merkel war stinksauer – und zwar endgültig. Schon die Äußerungen Röttgens, in denen er die NRW-Landtagswahl zu einer Abstimmung über den Euro-Kurs Merkels erklärte, hatten seine Chefin auf die Palme gebracht. Merkel habe Röttgens Vorgehen als Unverschämtheit empfunden, hieß es. Nach dapd -Informationen weigerte sich Röttgen jedoch, dem Wunsch von Merkel zu folgen. Er wollte sein Amt nicht aufgeben, wollte Minister bleiben.

Der Mittwoch

Am Mittwoch setzt sich das Kabinet zusammen, früh um 9.00 Uhr. Ein Bundesminister beschrieb der dapd die Szenerie folgendermaßen: Röttgen sei schon in der Sitzung „völlig durch den Wind“ gewesen. So mancher habe sich danach gefragt, ob der Umweltminister überhaupt sein Amt weiter ausüben könne. Die Kabinettssitzung sei im übrigen sehr entspannt verlaufen, hieß es aus Regierungskreisen weiter. Die Kanzlerin habe sogar Scherze gemacht – etwa über die sonderbare Verfassungslage in Griechenland bezüglich Regierungsbildung und Parlamentswahl. Auch Vizekanzler, FDP-Chef Philipp Rösler, habe gewitzelt. Röttgen habe hingegen sehr abwesend gewirkt, sich nicht einmal zu Wort gemeldet, sondern meist betrübt zu Boden geschaut.

Im Anschluss an die Sitzung, so übereinstimmende Quellen, habe die Kanzlerin Röttgen dann seine Entlassung mitgeteilt. Über diesen Schritt hatte sie zuvor kaum jemanden informiert.

Um 16.30 Uhr tritt Merkel dann – allein, ohne Röttgen – vor die blaue Wand im Kanzleramt, die Nachrichtensender schalten live. „Guten Tag meine Damen und Herren, ich habe heute Vormittag mit dem Herrn Bundespräsident gesprochen und ich habe ihm gemäß Artikel 64 des Grundgesetzes vorgeschlagen, Norbert Röttgen von seinen Aufgaben als Bundesumweltminister zu entbinden und so in diesem Amt einen personellen Neuanfang möglich zu machen.“

Die Kanzlerin erklärt zur Begründung, die Energiewende sei ein zentrales Projekt dieser Legislaturperiode. Röttgen habe zwar die Grundlage dafür gelegt, es bleibe aber noch „ein Stück Arbeit vor uns“. Sie dankte Röttgen knapp für sein Engagement. Als Nachfolger schlägt Merkel ihren Vertrauten vor, Unions-Fraktionsgeschäftsführer Peter Altmaier.

„Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“ Spricht’s und verschwindet nach noch nicht mal zwei Minuten wieder. Zurück bleiben ungläubige Journalisten. Kann das wirklich sein? Die Kanzlerin schmeißt ihren ehemaligen Musterschüler, ihren Parteivize, eiskalt aus dem Kabinett? Gegen seinen Willen? „Ja“, heißt es kurz nach halb fünf aus ihrem Umfeld. Es ist eine Entlassung wider Willen, nichts anderes.

Kurz drauf lädt die Unions-Fraktion zum Statement von Altmaier. Der twittert erst „Danke an Alle für die Glückwünsche zu meiner Berufung als Umweltminister. Ich brauche Ihre/Eure Unterstützung jetzt erst recht! Bis bald!“ und tritt dann vor die Kameras. Er freue sich auf „die Herausforderungen“. Er sei sich der großen Verantwortung bewusst. Die Energiewende sei eine „gesamtgesellschaftliche Herausforderung“, von der viel abhänge. Er wolle sich „mit ganzer Kraft und vollem Engagement“ darum kümmern, sagte der designierte Umweltminister. So geht die vierte Kabinettsumbildung der schwarz-gelben Bundesregierung über die Bühne.

Und Röttgen? Der wurde bei der Kabinettsitzung das letzte Mal gesichtet, dann taucht er ab. Auch seine Sprecherin ist nicht mehr erreichbar.

Autor: Kerstin Münstermann, dapd