Essen | Nach einem neuerlichen Milliardenverlust stellt Deutschlands größter Stahlkonzern ThyssenKrupp seine bisherige Stahl-Strategie auf den Prüfstand. Die in den vergangenen Jahren mit Milliardenaufwand gebauten neuen Stahlwerke in Brasilien und den USA könnten verkauft oder in eine Partnerschaft eingebracht werden, kündigte Konzernchef Heinrich Hiesinger am Dienstag an. Der Vorstand habe entschieden, „für beide Werke strategische Optionen in alle Richtungen zu prüfen“.

Mit der Ankündigung stellt der Essener Stahlkocher seine Zukunftspläne radikal infrage. Bislang waren die neuen Stahlwerke wichtige Eckpfeiler der Strategie des Konzerns. Die Grundidee: Stahlbrammen sollten in Brasilien billig hergestellt, in den USA zu Qualitätsstahl weiterverarbeitet und dann zu hohen Preisen auf dem US-Markt verkauft werden. Allerdings hatten sich die neuen Werke schon in der Bauphase zu Sorgenkindern entwickelt. Explodierende Baukosten und hohe Anlaufverluste rissen in den vergangenen Jahren Milliardenlöcher in die Bilanz und bremsten den geplanten Ausbau der Industriesparte.

Inzwischen sieht ThyssenKrupp offenbar sogar die gesamte Grundlage des Projekts infrage gestellt. Hiesinger betonte, seit der Planung hätten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Brasilien wie auch den USA anders entwickelt als angenommen. Im Schwellenland Brasilien habe der Wirtschaftsboom die Produktion überproportional verteuert.

Gleichzeitig sei es wegen der schwachen Konjunkturentwicklung in den USA inzwischen bei vielen Produkten zweifelhaft, ob dort die angestrebten Verkaufspreise erreicht werden könnten. Für ThyssenKrupp stelle sich deshalb die Frage, ob es weiter strategisch sinnvoll sei, beide Werke im Verbund zu betreiben.

Betriebsrat fürchtet um den gesamten Konzern

Angesichts der hohen Verluste unterstützt auch der Vorsitzende des Konzernbetriebs von ThyssenKrupp, Willi Segerath, einen möglichen Verkauf der Werke in Übersee. „Die Verluste in Brasilien und Alabama sind nicht zu amortisieren. Sie könnten nicht nur die Stahlsparte, sondern den gesamten Konzern gefährden“, sagte Segerath den Zeitungen der WAZ-Mediengruppe (Mittwochausgabe). Er sprach von „Managementfehlern“, die zu dem Desaster geführt hätten.

In einem möglichen Verkauf sieht Segerath aber nicht den Einstieg in den Ausstieg aus dem Stahlgeschäft. „ThyssenKrupp ohne Stahl wäre wie ein Wohnzimmer ohne Sofa“, sagte der Betriebsratschef.

Beifall von der Börse

Erst wenige Stunden vor Hiesingers Äußerungen hatte der Konzern bekanntgeben müssen, dass die schwache Stahlkonjunktur in Europa und hohe Anlaufverluste bei den neuen Stahlwerken in der ersten Hälfte des Geschäftsjahres 2011/12 erneut für einen Milliardendefizit gesorgt hatten. Allein die Anlaufverluste der neuen Stahlwerke belasteten das Ergebnis mit mehr als einer halben Milliarde Euro.

Auch die Edelstahlsparte Inoxum, die zum Jahresende an den finnischen Konkurrenten Outokumpu verkauft werden soll, schrieb hohe Verluste. Außerdem ließen sinkende Absatzmengen und ein harter Preiskampf die Gewinne der europäischen Stahlsparte einbrechen.

Unter dem Strich führte das zwischen Oktober und Ende März zu einem Verlust von knapp 1,1 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres hatte der Konzern noch einen Gewinn von 334 Millionen Euro ausgewiesen. Der Umsatz sank um ein Prozent auf 23,3 Milliarden Euro.

Die Börse reagierte geschockt auf die Zahlen. Zunächst büßte die ThyssenKrupp-Aktie über sechs Prozent an Wert ein. Erst die Ankündigung eines möglichen Strategiewechsels im Stahlbereich sorgte für eine radikale Trendwende. Zum Handelsschluss verzeichnete das Papier ein Plus von 1,6 Prozent gegenüber dem Vortag.

Autor: Erich Reimann, dapd
Foto: ThyssenKrupp Konzernchef Heinrich Hiesinger | Foto: ThyssenKrupp/PR