Vera-Lotte Boecker (als Autonoe) während der Fotoprobe zu The Bassarids in der Komischen Oper Berlin, 10. Oktober 2019. | Foto: IMAGO/Martin Müller

Von Christoph Mohr

Es ist eine der wichtigsten Auszeichnungen im deutschen Opernbetrieb: Die „Kritikerumfrage“ der Zeitschrift „Opernwelt“. Nun wurde die Kölnerin Vera-Lotte Boecker „Sängerin des Jahres“.

Einmal im Jahr fragt die Zeitschrift “Opernwelt” 50 Kritikerinnen und Kritiker nach dem Besten, was die Opernbühnen in Deutschland, Österreich (Wien, Salzburg), der Schweiz und dem nahen Ausland (Amsterdam, Straßburg) in der abgelaufenen Saison gezeigt haben. Das Ergebnis füllt nicht nur ein Heft des Opernmagazins. Die Auszeichnung ist für die weitere Karriere oft mehr wert als so mancher Preis der Musikindustrie.

Während in diesem Jahr die Oper Frankfurt zum wiederholten Male „Opernhaus des Jahres“ wurde, kürte die Kritik die Sopranistin Vera-Lotte Boecker zur „Sängerin des Jahres“. Die Auszeichnung gilt als Überraschung, wenn nicht gar als Sensation. Denn wenn Vera-Lotte Boecker auch schon auf zahlreichen der großen Bühnen im In- und Ausland gestanden hat, so gehört sie doch nicht unbedingt zu den im Opernbetrieb bekannten Namen.

„Sängerin des Jahres“ wurde Vera-Lotte Boecker insbesondere für ihre Leistung als Nadja Albrecht in der Oper „Bluthaus“ von Georg Friedrich Haas, die in diesem Jahr im Rahmen des „Ja, Mai“-Festival in München zu sehen war. Mit dieser Veranstaltungsreihe hat die Musikstadt München in schwierigen Corona-Zeiten Neues gewagt – und gewonnen.

Den Mozart-Verdi-Wagner-Opernfans sagt Georg Friedrich Haas nichts; für die, die sich auch für das zeitgenössische Opernschaffen interessieren, ist der 1953 geborene Österreicher, der heute in den USA lebt, einer der großen Namen. Haas schreibt sowohl Opern als auch Orchesterwerke und Kammermusik; als eine seiner besten Kompositionen gilt das vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) in Auftrag gegebene, im Jahr 2000 uraufgeführte „in vain“. Die Oper „Bluthaus“ wurde 2011 auf den Schwetzinger SWR Festspielen uraufgeführt; in München inszenierte sie in diesem Jahr Claus Guth, einer der Großen des Regietheaters. Boecker sagt von Guth, er habe sie an ihre Grenzen und darüber hinaus gebracht.

„Vera-Lotte Boecker als die geschändete Tochter liefert ein packend beängstigendes Psychogramm einer im Horror groß gewordenen, vielfach geschändeten und dennoch nicht pervertierten Frau“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ über die Münchener Aufführung. Die Sängerin erhält die Auszeichnung ausdrücklich auch für ihre schauspielerische Leistung.

Vera-Lotte Boecker ist Sänger-Darstellerin; ihr Repertoire umfasst sowohl die klassischen Paraderollen aus „Don Giovanni“ (Donna Anna), „Zauberflöte“ (Pamina), „La Traviata“ (Violetta) oder „La Bohème“ (Musetta) als auch sängerisch schwierige Opern des 20. Jahrhunderts. Sie suche ihre Rollen weniger nach der Musik als dem Charakter (der dargestellten Person) aus, sagte die Sopranistin in einem Interview. Das mag erklären, warum sie immer wieder in zeitgenössischen Opern zu sehen und hören ist. Denn während die klassische Oper vor allem Frauen kennt, die Objekt der männlichen Begierde sind und die sich aus Liebe opfern und (schön) sterben, bietet die Opernliteratur seit 1900 auch differenziertere Frauenrollen.

Auch die Karriere der Sopranistin ist alles andere als typisch. Geboren und aufgewachsen in Brühl, studierte Vera-Lotte Boecker nach dem Abitur Philosophie, zuerst in Düsseldorf, dann an der Humboldt-Universität in Berlin. Erst hier, so will es die Erzählung, habe sie in einer Rigoletto-Inszenierung ihre Liebe zur Oper entdeckt.

Was folgte, liest sich wie eine Szene wie aus einem US-amerikanischen Spielfilm: Die kleine Philosophie-Studentin steht vor einer der wichtigsten Musikhochschulen Deutschlands und bittet den Pförtner, sie zu einem der Star-Professoren vorzulassen, dem sie dann sagt: „Ich will singen“. Bei dem Mann handelt es sich um Thomas Quasthoff, selbst ein Künstler, der sich gegen alle Widerstände einen Platz im Musikleben erkämpfen musste. Wenn sich die Geschichte so zugetragen hat, muss man wohl in beiden Fällen rufen: Applaus! Tatsächlich schaffte Vera-Lotte Boecker dann ohne vorherige Gesangsausbildung die Aufnahme an die renommierte Hochschule für Musik Hanns Eisler, ihren Abschluss machte sie dann an der Universität der Künste (UdK) Berlin.

Es folgten wie üblich kleinere Engagements an diversen Bühnen, dann ein erstes Festengagement an der Oper Mannheim. Von hier holte sie Barrie Kosky, wegen seiner innovativen Inszenierungen gefeierter Regisseur und Intendant der Komischen Oper Berlin, an sein Haus.

So wurde die noch junge Sopranistin Teil der gefeierten Intendanz des Australiers Kosky, der der Komischen Oper Berlin nationale und internationale Wahrnehmung verschaffte. In der immens erfolgreichen „Zauberflöte“-Inszenierung, die Kosky 2012 mit der britischen Theatergruppe „1927“ entwickelte, sang Vera-Lotte Boecker die Titelpartie der Pamina und ging dann mit der Komischen Oper auf Welttournee, was sie nach Beijing, Tokyo, Paris und New York brachte. Nach Angaben des Hauses haben mittlerweile über 600.000 Menschen in 23 Ländern diese Produktion gesehen. In den nächsten Wochen kehrt sie gleichsam nach Hause zurück.

Heute lebt Vera-Lotte Boecker in der Musikstadt Wien. Zwei Jahre lang gehörte si e zum Ensemble der Wiener Staatsoper, an der sie auch weiterhin auftritt. Im nächsten Jahr wird sie in Wien in der Titelrolle von Alban Bergs Oper „Lulu“ zu sehen sein (27.05. – 06.06.2023). Auch eine ungewöhnliche Frau.


Wer mehr wissen will:

Opernwelt – Aktuelles Heft

https://www.der-theaterverlag.de/opernwelt/aktuelles-heft/

Website Vera-Lotte Boecker

https://vera-lotte-boecker.com/de/

Komische Oper Berlin/Trailer Zauberflöte

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Bayerische Staatsoper München/Bluthaus

https://www.staatsoper.de/stuecke/bluthaus

MusikTheater an der Wien/Lulu

https://www.theater-wien.at/de/spielplan/70/Lulu