Das Symbolbild zeigt den Schriftzug der Polizei in NRW.

Köln/Gelsenkirchen | Es ist das erste Urteil zum sogenannten Präventivgewahrsam aus dem neuen Polizeigesetz NRW, das die schwarz-gelbe Landesregierung einführte und an dem die schwarz-grüne Landesregierung festhält. In dem konkreten Fall nahmen NRW-Polizeibeamte drei Personen im Umfeld von Klimaprotesten vor dem Kraftwerk Datteln IV in Präventivgewahrsam und dies war rechtswidrig. Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen kann Berufung vor dem Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen eingelegt werden.

Der Fall am Kraftwerk Datteln 4

Es ist der 1. Februar 2020. Gegen 23 Uhr hielten sich drei Mitarbeiter*innen des Münsteraner Instituts für Theologie und Politik (ITP) in der Nähe des Kraftwerk Datteln 4 auf. Das Gericht spricht von unmittelbarer Nähe. Polizeibeamte kontrollierten die drei Personen. Sie nahmen die drei Personen in Gewahrsam auf Grundlage des  § 35 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Polizeigesetzes Nordrhein-Westfalen, dem sogenannten Präventivgewahrsam. Die Kläger:innen sprechen von einer Verkehrskontrolle und dass die Beamten des Polizeipräsidiums Recklinghausen ihnen keinen Tatvorwurf machen konnten. Sie schildern das Gewahrsam als erniedrigend, denn sie wurden von den Beamten „entkleidet“ im Präventivgewahrsam festgehalten.

Die Polizei war vor Ort, weil Proteste vor dem Kraftwerk stattfinden sollten. Darunter auch von der Gruppe „Ende Gelände“. Am 2. Februar 2020 besetzten rund 100 Klima-Aktivist:innen das Kraftwerksgelände.

Können NRW-Polizeibeamte mit dem neuen Präventivgewahrsamsparagraphen rechtssicher umgehen?

Die drei Kläger:innen hatten gegenüber den Beamt:innen erklärt, die Protestaktion lediglich beobachten zu wollen. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen erklärt in einer Mitteilung an die Öffentlichkeit: „Die von der Polizei zum Anlass für die Maßnahme herangezogenen Tatsachen (u.a. Kleidung, Mitführen von Verpflegung, Schlafsäcken und einer Stirnlampe, Nähe zur Gruppierung „Ende Gelände“) sind nicht ausreichend für die Annahme, dass die Begehung von Straftaten durch die nicht vorbestraften Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorgestanden hat. Die Freiheitsentziehung ist auch nicht unerlässlich gewesen, weil die Kläger sich kooperativ verhalten und keine Schritte unternommen haben, die darauf hindeuteten, dass sie vorhatten Straftaten zu begehen.“

Das Urteil und der unsensible Umgang der NRW-Polizeibeamten mit dem neuen NRW-Polizeigesetz lassen die Vermutung zu, dass entweder das von CDU-Mann Herbert Reul geführte Innenministerium des Landes NRW Vollzugsbeamte nicht ausreichend geschult oder sensibilisiert hat. Reul und Spitzenbeamte seines Ministeriums hatten bereits 2018 Papiere entwickelt in dem sie ein robusteres Auftreten von NRW-Polizist:innen einforderten. In dem Papier hieß es unter anderem: „Polizeibeamte müssen durchsetzungsfähig und -stark und damit letztlich gewaltfähig, aber nicht gewaltaffin werden.“ Auch müsse die „körperliche Robustheit, Präsenz und Durchsetzungsfähigkeit“ der Beamten gestärkt werden.

Die Kläger:innen zu dem Urteil

Das VG Gelsenkirchen stellt nun in dieser Vorgehensweise einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention fest, lesen die Kläger:innen aus dem Urteil und kündigen an: „Sobald das Urteil rechtskräftig ist, werden die beteiligten Mitarbeiter*innen des ITP an das Polizeipräsidium Recklinghausen eine Schadensersatzforderung stellen.“

„Das heutige Urteil hat für uns auch eine politische Dimension. Das NRW-Polizeigesetz, das im Februar 2020 erst wenige Wochen in Kraft war, sollte von seiner Grundanlage auch gegen Klimaproteste eingesetzt werden. Das heutige Urteil kritisiert also auch, dass die Verschärfungen in der Polizeipraxis massiv in Grundrechte eingreifen. Präventivgewahrsam ist und bleibt eine demütigende polizeiliche Praxis, die menschenrechtlich schwer zu legitimieren ist. Deswegen ist es richtig dagegen vorzugehen und die Einhaltung von Grundrechten im Kontext von Protesten einzufordern“, so Theologin Dr. Julia Lis, eine der Betroffenen und Klägerin im Verfahren.

„Wir sind erleichtert, dass das Gericht unserer Kriminalisierung durch die Polizei Recklinghausen etwas entgegengesetzt hat. Auch unter der neuen schwarz-grünen Landesregierung hat die Polizei bis zuletzt an der Legalität ihrer Praxis festgehalten. Wir sehen also NRW-Innenminister Reul letztlich in der Verantwortung für dieses unrechtmäßige Vorgehen der Polizei“, erklärt der Theologe Benedikt Kern vom Institut für Theologie und Politik. „Es bleibt zu hoffen, dass es künftig keine derartige Repression gegen die Klimagerechtigkeitsbewegung mehr geben wird und stattdessen grundlegende gesellschaftliche Veränderungen möglich werden.“

Nach dem Vorfall kam es zu bundesweit zu medialer Berichterstattung über das Vorgehen der NRW-Polizei und die damalige schwarz-gelbe Landesregierung schätzte die Vorgehensweise der Recklinghauser Polizei als überzogen ein. Das VG Gelsenkirchen hatte bereits in einem Eilverfahren im Frühjahr 2020 das von der Polizei verhängte Betretungsverbot der Kraftwerksumgebung aufgehoben. 

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Aktenzeichen: 17 K 4838/20