Köln | Ein Dutzend Kompositionsaufträge an zeitgenössische Komponisten hat der WDR erteilt. Diese sind eingeladen, sich musikalisch mit Themen der Zeit auseinanderzusetzen. WDR-Intendant Tom Buhrow verkauft das als innovatives Medienprojekt.

Es soll ein innovatives Projekt in Zeiten der Corona-Pandemie sein: Der Westdeutsche Rundfunk (WDR) hat ein Dutzend Komponistinnen und Komponisten zeitgenössischer Musik beauftragt, sich in kurzen, fünfminütigen „Miniaturen der Zeit“ musikalisch mit Themen der Gegenwart zu beschäftigen.

Ab Ende Mai wird das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Chefdirigent Cristian Măcelaru die kurzen Stücke (ohne Publikum) zur Erstaufführung bringen, WDR 3 überträgt live, ein YouTube-Channel ist eingerichtet. Über die nächsten zwölf Monate soll es dann jeden Monat eine solche Uraufführung, oder Ursendung geben. Die Komponistinnen und Komponisten hätten bei ihrer Arbeit die völlige thematische Freiheit gehabt, sagt der WDR.

Den Auftakt der Reihe „Miniaturen der Zeit“ bildet am 28. Mai 2021 die Uraufführung von „Where Icebergs Dance Away“ der in Berlin lebenden britischen Komponistin Charlotte Bray. Die 1982 geborene Künstlerin, die zuerst Cello studierte bevor sie ins Komponistenfach wechselte, erregte erstmals größeres Aufsehen, als sie 2012 eingeladen wurde, für die in Großbritannien immens populäre Veranstaltung BBC Proms ein Stück zu schreiben.

Für die WDR-Reihe „Miniaturen der Zeit“ beschäftigt sich Bray musikalisch mit dem Klimawandel und dem Schmelzen der Gletscher und Polkappen. „Ich strebe danach, das Licht und die Schönheit der eisigen Landschaft, die in der Sonne glitzert, darzustellen und musikalisch die Widersprüchlichkeit von Gletschern zu erkunden – stabil und doch zerbrechlich“, erklärt Bray. „Die Musik ist majestätisch und mysteriös, mit einer starken Präsenz. Üppige, eisige Akkorde eröffnen das Werk und schmelzen dann unvorhersehbar mit absteigenden Motiven und sporadischen Farbtupfern in Flöte, Piccolo, Harfe und gestimmten Schlagzeug. Diese Eröffnung weicht einem verspielten, lebhaften Abschnitt. Schichten bilden sich mit Melodien, die manchmal stachelig, manchmal glatt und hochfliegend sind und vom Wind geformt werden.“

Für die weiteren Erstaufführungen sind Werke von Dai Fujikura, Vito Žuraj, Birke Bertelsmeier, Malika Kishino, Sarah Nemtsov und Nico Muhly angekündigt. Bemerkenswert, dass sich mit Dai Fujikura und Malika Kishino gleich zwei (in Europa) lebende Japaner unter den eingeladenen Komponisten befinden.

Bereits 2016 stand eine Komposition von Dai Fujikura schon einmal auf dem Programm eines On Neue Musik Köln-Konzertes in der Kunst-Station Sankt-Peter. Einen noch kürzeren Weg hat Malika Kishino. Die 1971 geborene Japanerin lebt seit 2006 in Köln. Im letzten Jahr erhielt sie vom Gürzenich-Orchester Köln den Kompositionsauftrag für ein Bratschenkonzert.

Der WDR sieht in der Reihe „Miniaturen der Zeit“ ein Vorzeigeprojekt, das WDR-Intendant Tom Buhrow sogar dem Rundfunkrat vorstellte. Wie der Sender verlauten ließ, habe der WDR-Intendant seinem Aufsichtsgremium das Projekt als Teil des digitalen Umbaus des Senders vorgestellt, „mit hochwertigen Inhalten, sowohl neue Zielgruppen als auch das Stammpublikum zu erreichen“.

Tatsächlich jedoch ist die neue Reihe „Miniaturen der Zeit“ eher die Fortsetzung einer glorreichen, mittlerweile 70jährigen Tradition, die den WDR und Köln zeitweise zu einem internationalen Zentrum der Neuen Musik werden ließ. Bereits 1951 nämlich startete der WDR seine Konzertreihe „Musik der Zeit“, die zeitgenössischen Komponisten eine Plattform geben sollte. Über 500 Uraufführungen hat es in dieser Reihe gegeben. Besonders in den Jahren unter Otto Tomek (1957 – 1971) fanden sich hier die ganz großen Namen des zeitgenössischen Musikgeschehens, John Cage, Hans Werner Henze, György Ligeti, Krzysztof Penderecki, Karlheinz Stockhausen, Bernd Alois Zimmermann uvm. So sind die „Miniaturen der Zeit“ eher „Musik der Zeit“ in Miniaturform, Radio ergänzt um einen YouTube-Channel.

Betreut wird das Projekt „Miniaturen der Zeit“ von dem WDR-Musikredakteur Harry Vogt, der seit 1990 auch künstlerischer Leiter der Wittener Tage für neue Kammermusik ist, und 1997 die seit 1951 bestehende WDR-Konzertreihe „Musik der Zeit“ übernommen hat.

Zwei Kompositionsaufträge, so ist zu erfahren, sind noch gar nicht vergeben. Bewerbungen, so heißt es, nimmt der WDR gerne entgegen.

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Wer mehr wissen will:

Frank Hillberg, Harry Vogt (Herausgeber)
Musik der Zeit 1951 – 2001. 50 Jahre Neue Musik im WDR
Essays – Erinnerungen – Dokumentation
(2 CDs mit Auftragswerken und Uraufführungen)
Hofheim: Wolke Verlag 2002
34,80 €

Autor: Von Christoph Mohr