Duisburg | Noch heute erinnern an der Rampe zum Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs in Duisburg Blumen, Fotos und Kreuze an die 21 Todesopfer des Loveparade-Unglücks vom 24. Juli 2010. Zum zweiten Jahrestag erinnern sich zwei Duisburger an das dramatische Ereignis und berichten, wie sie noch heute mit den Folgen zu kämfen haben.

Der 24. Juli war der schwärzeste Tag in Detlev Keyes Leben. Er lag am Boden, hörte Schreie, sah nicht mehr, was um ihn herum geschah. „Ich dachte, es wäre vorbei“, sagt der 46-Jährige mit leiser Stimme. Dabei ist Keye eigentlich ein kräftiger Mann, mit lachenden Augen. Doch wenn er an diesen Tag vor knapp zwei Jahren zurückdenkt, trübt sich sein Blick ein. Die Loveparade-Katastrophe von Duisburg, sagt er, werde er wohl nie vergessen können. Eigentlich sollte an diesem Tag ein Traum für ihn in Erfüllung gehen. „Ich wollte schon lange mal zur Loveparade, aber ich hatte nie Zeit“, berichtet der Duisburger. Doch dann kam die Loveparade zu ihm nach Duisburg. Er machte sich mit seiner Freundin, deren Tochter und einer Freundin der Tochter auf den Weg.

Immer voller wurde es in Richtung Veranstaltungsgelände. Bis plötzlich gar nichts mehr ging. Nur wenige Meter von der Treppe entfernt, an der sich die große Katastrophe abspielen sollte, steckten sie fest. Es ging nicht mehr vor, nicht mehr zurück. Keye stürzte, kam nicht mehr hoch, verlor die anderen aus den Augen. Er hatte Todesangst. Und riesiges Glück. Irgendwie schaffte er es doch raus aus der Masse. Er sah die 15-jährige Tochter seiner Freundin, zog auch sie aus der Menge. „Wir hatten zerrissene Klamotten, ich hatte keine Schuhe“, sagt Keye. Was mit seiner Freundin und der Freundin seiner Tochter war, wussten sie nicht. Erst viele Stunden später kamen die erlösenden Nachrichten: Beide Frauen lagen im Krankenhaus. „Ich habe erst einmal nur gedacht: Gott sei Dank, wir haben überlebt.“

Kontaktstelle kümmert sich um Opfer

Ähnliche Geschichten wie die von Keye kennt Angelika Köhler. Sie ist Mitglied des Vereins Loveparade Selbsthilfe und seit Mai einzige hauptamtliche Mitarbeiterin in der vom Verein betriebenen Kontaktstelle für Betroffene der Loveparade-Katastrophe. „Auch mein Sohn war damals auf dem Weg dorthin“, erinnert sie sich. Er sei jedoch nie auf dem Party-Gelände angekommen, weil er schon am Bahnhof nicht mehr weiterkam. So entging er dem tödlichen Gedränge.

Seit der Eröffnung der Kontaktstelle vor zweieinhalb Monaten haben sich etwa ein Dutzend Betroffene Hilfe suchend an Köhler gewandt, etwa weil sie einen Therapieplatz brauchten. „Das ist eine ziemlich nervenaufreibende Sache“, sagt Köhler. Allein in einem Fall habe sie 42 Therapeuten kontaktieren müssen, um endlich einen Platz zu bekommen. „Mir macht das relativ wenig aus, aber wenn Sie eh schon krank sind, ist das etwas anderes“, sagt sie.

Auch Keye macht bis heute eine Therapie. Aufnahmen von den schrecklichen Minuten am Fuß der Treppe kann er sich trotzdem immer noch nicht ansehen. Schlimmer noch: Selbst Bilder aus Fußballstadien oder anderer großer Menschenansammlungen jagen ihm Angst ein. An einen Besuch in seinem geliebten MSV-Stadion, in dem er früher kein Heimspiel seiner Duisburger verpasste, ist nicht zu denken. „Für mich ist es schon ein Erfolg, eine Jeans zu kaufen“, sagt Keye. Wo es geht, meidet er selbst Einkaufszentren und Supermärkte.

Und auch sonst hat sich sein Leben seit dem Juli-Tag vor zwei Jahren gewaltig geändert. Weil er so lange krankgeschrieben war, verlor er seine Arbeit. „Nach 23 Jahren im Betrieb“, sagt er bitter. Dabei hatte er noch alles versucht, hatte sich Monate lang weiter zur Arbeit geschleppt, bis er merkte: Es geht wirklich nicht. Als er sich krankschreiben ließ, habe ihm sein Chef Vorwürfe gemacht: „Was gehst Du auch zu so was hin?“ Und: „Stell Dich nicht so an.“

„Gut einen Meter von mir entfernt ist ein Mädchen gestorben“

Doch trotz allem, will sich der 46-Jährige nicht geschlagen geben. „Ich bin einer von denen, die kämpfen“, sagt er und berichtet von der Reha, die er hinter sich hat und die ihm half, sein größtes Trauma zu verarbeiten: „Gut einen Meter von mir entfernt ist ein Mädchen gestorben. Ich wollte ihr helfen, aber ich konnte nicht“, sagt er. Noch Monate später wachte er nachts auf, schweißgebadet, weil er im Traum dieses Bild wieder vor sich gesehen hatte. Seit der Reha im vergangenen Jahr ist das Bild weg und Keyes Lebensmut ein gutes Stück großer geworden.

„Meine Einstellung zum Leben hat sich geändert. Ich lebe heute viel bewusster“, sagt er. Wenn er an einem See vorbeigehe, sehe er das Insekt, das sich auf einem Blatt niederlasse. „Darüber kann ich mich heute freuen.“ Und von dieser neuen Lebensfreude will er ein wenig weitergeben. Über den Verein Loveparade Selbsthilfe hilft er jetzt anderen: „Ich gebe gerne etwas zurück von dem, was ich selbst bekommen habe“, sagt er.

Der Ort des Loveparade-Unglücks heute

Noch heute erinnern an der Rampe zum Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs in Duisburg Blumen, Fotos und Kreuze an die 21 Todesopfer des Loveparade-Unglücks vom 24. Juli 2010. Sie sind rund um die Treppe zum damaligen Veranstaltungsgelände aufgestellt, an der die meisten Opfer starben. Auf Steinen und Kacheln haben Freunde und Angehörige wenige Meter entfernt ihrer Trauer und Fassungslosigkeit Ausdruck verliehen. Über der Treppe wehen die Flaggen der Länder, aus denen die Opfer stammten. Auf dem Gelände selbst sollen ein großes Möbelhaus und ein Möbeldiscounter entstehen, dazu sind noch Büros geplant. Direkt am Ort des Unglücks soll zudem eine 660 Quadratmeter große Gedenkstätte errichtet werden. Wie diese genau aussehen soll, ist allerdings noch unklar. Sie soll aber zum dritten Jahrestag des Unglücks, also im kommenden Jahr, bereits fertig sein.

Autor: Tonia Haag/ dapd | Foto: Mark Keppler/dapd
Foto: Gedenktafel an der Brueckenmauer vor dem Rampenzugang zum Loveparade-Gelände 2010