Bochum | Um 9.30 Uhr ist das Unglück für alle in der Umgebung sichtbar. Dunkelbraune Rauchschwaden seien aus Schacht II der Zeche Lothringen in Bochum-Gerthe emporgestiegen, erzählt Jürgen Niedringhausen vom Bergmanns-Kameradschafts-Verein. Weit unter Tage, 345 Meter unter der Erde auf der dritten Sohle, war kurz zuvor Methangas explodiert – für jeden Bergmann, der sich in der Nähe aufhielt, ein Todesurteil. Am 8. August jährt sich das Grubenunglück zum 100. Mal.

Hätte Unglück vermieden werden können?

Wie viele Bergleute genau damals ihr Leben ließen, ist bis heute umstritten. Das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum spricht von 112 Toten, andere Quellen von 114 oder 115 Opfern. Nach Berechnungen des Bergmanns-Kameradschafts-Vereins „Glückauf Gerthe“ 1891 waren es sogar 118 Tote. 117 von ihnen seien gleich durch die sogenannte Schlagwetterexplosion gestorben, ein weiterer Mann sei zwei Monate später im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen erlegen, sagt Jürgen Niedringhausen, der Schriftführer des Vereins.

Auch die örtliche Zeitung ist damals von der Heftigkeit des Unglücks geschockt. „Der Tod muss eine rasche Ernte gehalten haben; der Explosionsschlag und die Flammen, welche die Baue durchwogten, hatten fast ausnahmslos und wohl augenblicklich jedes Leben vernichtet“, schreibt der „Märkische Sprecher“ am Tag nach der Katastrophe. Die Feuerwalze sei so schlimm gewesen, dass man einige Bergleute kaum habe identifizieren können, sagt Niedringhausen.

Werner Nettler, der Vorsitzende des örtlichen Bergmanns-Kameradschafts-Vereins, der früher selbst auf Zeche Lothringen arbeitete, ist bis heute überzeugt, dass das Unglück hätte vermieden werden können. „Man wusste schon am Abend vorher durch Messungen, dass Methangas austritt“, sagt er. „Aber die Fördermenge musste stimmen, daher wurden die Leute runtergeschickt.“

Auch der Kaiser kam zur Zeche

Die Folgen sind bekannt. 300.000 Menschen verfolgten vier Tage später den wohl größten Trauerzug, den das beschauliche Gerthe mit seinen damals gut 9.000 Einwohnern bislang erlebt hat. Sogar der Kaiser, der sich gerade zur 100-Jahr-Feier der Firma Krupp in Essen aufhielt, kam in den Ort, um sich über die Katastrophe und die Rettungsmaßnahmen selbst ein Bild zu machen. Den Angehörigen der Opfer blieb nicht mehr als eine kleine Hinterbliebenenrente – gut 27 Reichsmark für jeden Hinterbliebenen, wie Niedringhausen sagt. Der Monatslohn eines Hauers im Bergbau habe damals bei etwa 140 Reichsmark gelegen.

Auf dem städtischen Friedhof an der Kirchharpener Straße in Bochum-Gerthe erinnert bis heute ein Denkmal an die Opfer des Unglücks. Auf zwei Tafeln sind die Namen der Bergleute aus der Stadt verzeichnet, die zu Fuße des Denkmals in einem gemeinsamen Grab beerdigt wurden – streng getrennt auf einer katholischen und einer evangelischen Seite.

Nichts für Angsthasen

Im Bergwerk selbst war es vor allem eine dicke Ziegelmauer, welche die Bergmänner immer wieder an das Unglück denken ließ. Sie trennte den Unglücksort von den übrigen unterirdischen Gängen und sollte verhindern, dass sich eventuell noch vorhandene gefährliche Luftgemische weiter verbreiten und erneut Unheil anrichten konnten. „Man hat schon ein komisches Gefühl gehabt, wenn man an dieser Wand stand“, erinnert sich Nettler, der 40 Jahre nach dem Unglück seine Ausbildung auf Zeche Lothringen begann. Es werde vermutet, dass es hinter der Mauer noch jahrelang, vielleicht sogar bis zur Schließung der Zeche 1967 Schwelbrände gegeben habe.

Aber für Angsthasen sei die Arbeit unter Tage ohnehin nie etwas gewesen, sagt Nettler. „Die ganzen Geräusche, das Knacken, die Förderkörbe, die an dünnen Seilen hingen und in die Tiefe gelassen wurden – wenn jemand richtig Angst hat, dann darf er kein Bergmann werden.“

Autor: Tonia Haag/ dapd | Foto: Patrick Sinke/ dapd
Foto: Symbolfoto