Köln | Die Bevölkerungswarnung in der Unwetterkatastrophe Tief „Bernd“ am 14. und 15. Juli in Nordrhein-Westfalen hat versagt. Die Landesregierung schiebt den schwarzen Peter den kommunalen Behörden zu. Statt selbst zu warnen, legte das NRW-Innenministerium bereits zwei Tage bevor die Unwetterkatastrophe mit dem ersten Starkregen in Hagen in NRW begann, ein behördeninternes Intranetformular an, in der die lokalen Behörden etwa Verletzte und Tote eintragen können. Die Frage ist, wann wurde Ministerpräsident Armin Laschet informiert, wie handelte er oder warum nicht?
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Hinweis der Redaktion: Die örtliche Situation in Köln wird separat betrachtet – hier ist die Recherche noch nicht abgeschlossen.
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Die Landesregierung war bestens informiert

Der Deutsche Wetterdienst (DWD) als Bundesbehörde warnte eindringlich im Vorfeld vor Starkregen und örtlichen Überflutungsgefahren im Westen Deutschlands sowie speziell in NRW. Diese Warnmeldungen erhalten Behörden. Sie werden auf der DWD-Seite öffentlich zugänglich gemacht und von Medien genutzt. So geschah es auch in diesem Fall. Es handelt sich um eine einfache und schnell nachvollziehbare Warnkette.

Das nach den Flutereignissen in Ostdeutschland 2002 geschaffene European Flood Awareness System (EFAS) des Copernicus Emergency Management Service registrierte bereits am 9. und 10. Juli die hohe Wahrscheinlichkeit von Überschwemmungen für das Rheineinzugsgebiet. Die ersten EFAS-Meldungen wurden ab dem 10. Juli an die nationalen Behörden versandt. Bis zum 14. Juli, also dem Mittwoch, an dem das Starkregenereignis in der Region startete und stattfand, wurden mehr als 25 Meldungen für bestimmte Regionen des Rhein- und Maaseinzugsgebiets verschickt. EFAS-Meldungen richten sich an Spezialisten und nicht an die Öffentlichkeit. Die Warnungen der EFAS sollen von den nationalen Behörden für deren Warnungen aufbereitet werden. Der Deutsche Wetterdienst verarbeitet diese EFAS Warnmeldungen in seinen Warnmeldungen. (Wie EFAS arbeitet und funktioniert finden Sie am Ende des Artikels)

Das Innenministerium NRW erhielt auf Nachfrage dieser Internetzeitung am 12. Juli, also am Montag durch den DWD und in dem die EFAS-Meldungen verarbeitet sind, den ersten amtlichen Warnlagenbericht an das Lagezentrum der Landesregierung in NRW per E-Mail. Da alle örtlichen Leitstellen den wortgleichen DWD-Warnlagebericht erhalten, hat das NRW-Innenministerium etwas kurioses – in der Nachbetrachtung zynisches – getan: Anstatt sich mit der Warnung inhaltlich auseinanderzusetzen legte das Ministerium die Landeslage Sturmtief „Bernd“ per Erlass vom 13. Juli im internetbasierten Informationssystem Gefahrenabwehr NRW (IG NRW) an. Wozu dies gut ist, dazu schreibt das Innenministerium dieser Internetzeitung: „In diese Landeslage werden durch die Leitstellen der Kreise und kreisfreien Städte verschiedene Parameter (Anzahl der Einsätze, Anzahl der Einsatzkräfte, verletzte/tote Einsatzkräfte, Verletzte/Tote in der Bevölkerung) in Bezug auf die Unwetterlage „Bernd“ eingetragen. Die Landeslage dient dazu, Einsatzschwerpunkte zu erkennen und gegebenenfalls zielgerichtet überörtliche Hilfe zu ermöglichen.“ Im Klartext: Es muss erst etwas passiert sein, bevor die Landesregierung überörtlich handelt.

Dies war aber nicht die einzige Meldung, die die Landesregierung NRW erhielt. Auch das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (LANUV) erhielt nach Recherchen von „Der Westen“ am 13. Juli eine konkrete Warnung in der „Hydrological Guidance“ des DWD vor einem möglichen extremen Hochwasser. Das LANUV aktivierte am gleichen Tag um 10:55 Uhr seinen Hochwasserinformationsdienst und informierte das Umweltministerium. „Der Westen“ zitiert aus der Warnung: „EFAS zeigt im Zeitraum größer 48 Stunden weiterhin erhöhte Signale für das Überschreiten eines 5-jährigen Hochwassers an mehreren großen Flüssen im Südwesten und Westen Deutschlands (speziell Rhein und Zuflüsse). Oftmals sollen aber auch die Schwellen für ein 10- bis 20-jähriges Hochwasser erreicht werden, wobei anhand der Ensemble-Prognosen vereinzelt selbst ein 50-jähriges Hochwasser nicht komplett auszuschließen ist.“ Diese Meldung sollen die Bezirksregierungen erhalten haben und das NRW-Umweltministerium als Oberste Wasserbehörde, geführt von CDU Frau Ursula Heinen-Esser.

Warum behauptet NRW-Innenminister Herbert Reul, CDU, nach dem Hochwasser: „Das Wesen von Katastrophen ist, dass sie nicht vorhergesagt werden können. Das Wesen von Naturkatastrophen ist, dass sie erst recht nicht vorhergesagt werden können.“?

NRW Landesregierung duckt sich weg und schiebt die gesamte Verantwortung auf die kommunalen Behörden

Matthias Gebler, Sprecher des Innenministeriums NRW auf die Anfrage von report-K zur Frage nach der Warnung der Bevölkerung: Der Grundsatz lautet: der Kern der Krisenbewältigung liegt bei den Kreisen und kreisfreien Städten (Örtlichkeitsprinzip). Dennoch berät seit vergangenen Mittwoch, 14. Juli, zusätzlich die Koordinierungsgruppe des Krisenstabes im Innenministerium. In der Koordinierungsgruppe beraten Fachleute aus dem Innenministerium, den anderen Ressorts der Landesregierung, der Bundeswehr, der Landes- und Bundespolizei und koordinieren Hilfeleistungen im Land. Regelmäßig treffen dort neue Lageberichte ein, aufgrund derer Entscheidungen getroffen und vor Ort unterstützt werden kann.

Das NRW-Innenministerium versteckt sich hinter dem Örtlichkeitsprinzip, das bei lokalen Schadenslagen mehr als berechtigt ist, und erwähnt nicht, dass das Gesetz dem Innenministerium durchaus die Möglichkeit gibt, überörtlich Kompetenzen an sich zu ziehen, ohne Oberbürgermeister und Landräte zu entmachten. Denn es gilt das Gesetz über den Brandschutz, die Hilfeleistung und den Katastrophenschutz (BHKG) und dort findet sich in Paragraf 54 Absatz 6: „Werden Gebiete mehrerer kreisfreier Städte oder Kreise von einer Großeinsatzlage oder einer Katastrophe betroffen, so kann die gemeinsame Aufsichtsbehörde eine von diesen Körperschaften mit der Leitung der Abwehrmaßnahmen beauftragen. Die Aufsichtsbehörden können im Übrigen die Leitung der Abwehrmaßnahmen an sich ziehen, wenn der Erfolg der Abwehrmaßnahmen ansonsten nicht sichergestellt erscheint. Auch dann wirken die bisher Zuständigen bei den Abwehrmaßnahmen mit.“(§54 BHKG, Abs. 6) Heißt im Klartext: Das Innenministerium kann bei überörtlichen Unwetterkatastrophen die Leitung übernehmen und bei angekündigten Sturzflutereignissen, die das ganze Land betreffen auch tun.

Und auch was die Warnung der Bevölkerung angeht ist die Landesregierung keinesfalls außen vor, so wie sie es jetzt vereinfacht gerne darstellt. Die Bevölkerungswarnung regelt die Warnung und Information der Bevölkerung im Brand- und Katastrophenschutz (Runderlass des Ministeriums des Innern – 32-52.08.09 – vom 26. Mai 2020), den die Schwarz-Gelbe Landesregierung selbst überarbeitete. Dieser sieht zwar auch prinzipiell das Örtlichkeitsprinzip vor, aber dort heißt es unter Punkt 5: „Das für Inneres zuständige Ministerium kann anlassbezogen jederzeit bei Lagen, die landesweit relevante Auswirkungen hinsichtlich der Schäden und der Gefahrenabwehrmaßnahmen haben können, eine Warnung veranlassen. Dies kann insbesondere bei Ereignissen außerhalb der Landesgrenzen von Nordrhein-Westfalen, die entsprechende oben genannten Auswirkungen innerhalb des Landes zur Folge haben können, der Fall sein.“ Die Frage, ob das Land eine entsprechende Bevölkerungswarnung auslöste wird unter dem Hinweis der Zuständigkeiten der örtlichen Behörden erst gar nicht durch das Innenministerium NRW beantwortet. Daher ist davon auszugehen, dass dies nicht erfolgte.

Der „WDR“ als öffentlich rechtliche-Sendeanstalt ist an das satellitengestützte modulare Warnsystem (MoWaS) des Bundes, das Gemeinden, Kreise und die Landesregierung auslösen können. An das MoWas-System sind aber nicht alle Medien angebunden, sondern es erfolgt eine Auswahl durch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz. Wie diese Auswahl erfolgt bleibt intransparent. Der „WDR“ sagt: „Im ‚WDR‘ Fernsehen wurden Warnmeldungen über einen Crawl eingeblendet.“ und verweist auf seine Sondersendungen. Die Frage, wer den Sender von Seiten der Gemeinden informierte oder auch eine Bevölkerungswarnung auslöste und vor allem auch in welcher Warnstufe von 1 bis 3, lässt der Sender auf Anfrage dieser Internetzeitung unbeantwortet.

Der von Armin Laschets Landesregierung überarbeitete Warnerlass ist an Komplexität nicht zu überbieten. Wer sich ein Bild davon machen will: https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_bes_text?anw_nr=1&bes_id=42546&aufgehoben=N&keyword=Warnerlass

Dabei muss Warnen so funktionieren:
1. Gefahr erkennen und gegebenenfalls richtig einordnen
2. Warnen alle, verständlich und über jeden Kanal/Medium
Und ganz grundsätzlich: Lieber einmal zu oft, als einmal zu wenig.

Ein Fazit

Zwei Ministerien der Landesregierung und zwar das NRW-Umweltministerium und das NRW-Innenministerium waren bestens informiert und zwar über das LANUV, den DWD und die darin eingebetteten EFAS-Meldungen. Dennoch führte die hervorragende Informationslage nicht zu einem sach- und fachgerechten Handeln. Das Warum dies zu keiner Reaktion der Landesregierung führte ist aktuell Spekulation und bedarf einer dringlichen Aufarbeitung im NRW-Landtag.

Offensichtlich ist, dass sich die Landesregierung hinter den örtlichen Behörden juristisch verstecken will. Das ist fragwürdig, wenn laut Gesetz die Landesregierung alle Möglichkeiten hat, in überörtlichen Lagen sowohl die Warnung, als auch die anschließende Gefahrenabwehr koordinierend an sich zu ziehen. Was sie nicht tat. Laut Auskunft eines Sprechers des Innenministeriums kann ausschließlich Ministerpräsident Armin Laschet einen Krisenstab einberufen. Warum er dies nicht tat, sollte geklärt werden. Oder gibt es in den NRW Ministerien und den ihnen angegliederten Landesbehörden wie dem LANUV nicht ausreichend Kompetenz Lagen, die der DWD und das EFAS beschreibt, korrekt zu interpretieren und in operatives Handeln der Landesregierung umzusetzen?

Der Nebelschleier den Laschet und Reul über die Vorgänge sprachlich mit Klimawandel, unvorhergesehene Naturkatastrophe werfen, mag populistisch verfangen und auf kurze Distanz die Umfragewerte nicht berühren. Wir sehen aber gerade in Armin Laschet bei dieser Flutkatastrophe nicht den strategisch und operativ klar und entschlossen Handelnden. Es gibt zwei Möglichkeiten: Laschet war nicht korrekt und umfassend informiert, dann wäre an seiner Führungsstärke zu zweifeln. Oder Laschet war informiert und zog aus diesen Informationen keine Konsequenzen. Auch das spricht nicht für Führungskraft. Wer übrigens den Vergleich mit Helmut Schmidt zur Sturmflut 1962 in Hamburg zieht, sollte noch eines bedenken: Laschet verfügt über die gesetzliche Grundlage für ein Eingreifen.

Auch die Debatte um Sirenen wird zur Scheindebatte, wenn sie nicht landesweit bei angekündigten Sturzfluten, wie bei Wetterlage „Tief Mitteleuropa“ – eine Wetterlage die es schon lange gibt – ausgelöst werden. Denn, wenn in der einer Gemeinde noch die Sonne scheint, kann in der Gemeinde die topografisch oberhalb liegt, ein Starkregenereignis einen Bach zum Überlaufen bringen und kurze Zeit später die nicht vom Regen betroffene topografisch tieferliegende Gemeinde überfluten. Hier hilft die Eingrenzung auf die Örtlichkeit und deren Zuständigkeit nicht, wie bei lokal begrenzten Schadensereignissen. Hier ist eine überörtliche Kommunikation zwingend und die kann nur die Landesregierung, wenn ganz NRW betroffen ist, anführen. Die Talsperren werfen Fragen auf: Wenn doch schon am Montag bekannt war, dass es zu Überflutungen kommen kann, warum wurden im Vorfeld des Starkregenereignisses diese durch geregeltes Ablassen des Wassers nicht darauf vorbereitet?

Das Schlimme ist, dass das systemische Versagen bei der Bevölkerungswarnung der Landesregierung Menschenleben forderte und es ist zu befürchten durch die Nebelkerzen und eine schwache Opposition sowie den beginnenden Bundestagswahlkampf, dass die Lerneffekte gering sein werden. Wie muss sich das für Menschen anfühlen, die ihre Liebsten verloren haben? Erst das Lachen von Ministerpräsident Armin Laschet in Erftstadt und jetzt müssen sie erfahren, dass die Landesregierung anstatt die Menschen zu warnen, ein Intranetformular für Kommunen einrichtete in den diese Schäden, Tote und Verletzte eintragen sollten. Schäden hätten sich nicht vermeiden lassen, aber vielleicht hätten weniger Menschen ihr Leben lassen und deren Angehörige nicht so viel Leid erfahren müssen, wäre die Landesregierung ihrer Verantwortung nachgekommen.

Weitergehende Informationen

So arbeitet EFAS

EFAS erstellt zweimal täglich aktualisierte hydrologische Vorhersagen für Fluss- und Sturzfluten in ganz Europa. Diese werden von geschulten Hydrologen analysiert, und auf Basis standardisierter Kriterien werden die EFAS-Hochwasservorhersagen, die sogenannten „EFAS-Hochwassermeldungen“, herausgegeben. EFAS-Meldungen sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, da sie Experteninformationen enthalten, die nationale Entscheider mit den lokalen Informationen kombinieren sollten, um eine bestmögliche Grundlage für die Entscheidungsfindung zu schaffen. Partner des EFAS sind das Landesamt für Umwelt Rheinland-Pfalz, das Sächsische Landesamt für Umwelt Landwirtschaft und Geologie, das Bayerische Landesamt für Umwelt, das Hessische Landesamt für Naturschutz, Umwelt und Geologie sowie das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK).

Autor: Andi Goral
Foto: Laschet bei seiner fünfminütigen Ansprache im WDR Fernsehen am 18. Juli nach der Unwetterkatastrophe. Foto: Screenshot