Das Archivbild zeigt die Demonstration am 14. Januar 2023. | Foto: via dts nachrichtenagentur

Köln | Es war im Januar 2023 als die schwarz-grüne Landesregierung Lützerath durch einen massiven Polizeieinsatz räumen ließ. Schilder mit „Lützi bleibt“ oder „Keep it in the ground“ hielten die Demonstrierenden hoch, darunter die Ikonen der neuen Umweltbewegung Luisa Neubauer und Greta Thunberg. Jetzt kommt es zur Erkenntnis, so postuliert der BUND NRW, dass die schwarz-grüne Landesregierung die Braunkohlenbedarfe überschätzte und die Zerstörung Lützeraths energiewirtschaftlich nicht zu rechtfertigen ist. Derweil kriminalisiert das NRW Innenministerium weiterhin die Proteste gegen die Räumung von Lützerath. Alles in allem wirft dies die Frage auf: Handelt und handelte die schwarz-grüne Landesregierung in Bezug auf Lützerath jemals legitim? Vor allem die NRW Grünen wären in der Pflicht sich zu erklären.

 „Aus energiewirtschaftlicher Sicht war die Zerstörung Lützeraths nicht zu rechtfertigen“

Dirk Jansen, BUND NRW

Der BUND NRW bezieht sich bei seinen Aussagen auf eine aktuelle Analyse des Wirtschaftsforschungsunternehmens Prognos. Diese Analyse belege, dass die schwarz-grüne Landesregierung den Bedarf an Braunkohle im Tagebau Garzweiler deutlich überschätzte. Prognos kommt zu dem Ergebnis, dass durch den Ausbau der Erneuerbaren Energien in Europa und unter Berechnung der aktuellen Erdgas- und CO2-Preise die beiden Braunkohlekraftwerke Niederaußem und Neurath weniger Strom produzieren werden. Braunkohle entwickelt sich wirtschaftlich ungünstig. So zeigt die Prognos-Studie, dass in dem Jahr in dem die schwarz-grüne Landesregierung Lützerath räumen ließ, die Vollbenutzungsstunden der beiden Kraftwerke bereits so stark zurückging, wie dies im Szenario der NRW-Landesregierung erst für 2027 prognostiziert wurde.

Auch die Bedarfe bei der „Kohleveredelung“ seien um 10 Millionen Tonnen überschätzt worden. Der BUND NRW kommt zu dem Schluss, dass die Zeit der Braunkohle schneller vorbei sein werde, als Landesregierung und RWE annehmen.

Dirk Jansen, NRW-Geschäftsleiter des BUND: „Sowohl unter dem bereits 2018 zerstörten Dorf Immerath als auch unter dem 2023 geräumten Lützerath wurde bis heute kein Gramm Braunkohle gefördert. Da muss sich die Landesregierung ehrlich machen. Die Prognos-Analyse zeigt, dass sowohl die Kohlebedarfe zur Verstromung als auch zur Veredelung deutlich überschätzt wurden. Wir vom BUND erwarten deshalb, dass die Wirtschaftsministerin bei neuen bergrechtlichen Genehmigungen ihren Handlungsspielraum gegenüber RWE nutzt. Die Kohleförderung muss deutlich begrenzt werden.“

BUND NRW mit Forderung an NRW Landesregierung

Der BUND NRW fordert jetzt von der NRW Landesregierung, dass sie in Zukunft bei den bergrechtlichen Zulassungen restriktiver handelt. Lützerath gibt es nicht mehr. Die Oberfläche wurde abgebaggert. Nicht aber die Kohle unter dem Dorf. Dort wurde kein einziges Gramm Kohle bisher gefördert. Vor diesem Hintergrund gibt es Zweifel an der Legitimität der Maßnahmen, die RWE und NRW Landesregierung ergriffen haben.

Sven Bechen, Landesvorsitzender der PIRATEN NRW und Listenkandidat zur Europawahl zu den neuesten Entwicklungen: „Die falschen Zahlen von RWE haben die Grundlage für den Abriss von Lützerath geschaffen. Die nun offengelegten Fakten erfordern eine dringende Überprüfung dieser Maßnahmen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir auf verlässliche Daten und eine ehrliche Diskussion setzen, um nachhaltige Lösungen zu finden, die sowohl den Energiebedarf decken als auch die Gemeinschaft schützen. Der Braunkohlestrom wurde schlicht nicht gebraucht. Ursprünglich berief sich die Landesregierung auf Zahlen von RWE und ein Kurzgutachten zur Ermittlung des Braunkohlebedarfs der Firma BET und der Landesgesellschaft für Energie und Klimaschutz, dass der Weiler für den Abbau von Kohle für etwa 32,6 Terawattstunden benötigt werden würde, um den Energiebedarf zu decken. Diesen widersprachen damals bereits unabhängige Studien der Universität Flensburg, der technischen Universität Berlin und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin (BIW). Statt der behaupteten 32,6 Terawattstunden ist voraussichtlich nur ein Bedarf von 24 Terawattstunden erforderlich, was die Zerstörung des Weilers Lützerath in Frage stellt und als überflüssig kennzeichnet.“

Demonstration am 14. Januar 2023 bei Lützerath. (Archivbild) | Foto: via dts nachrichtenagentur

Legitimität, Polizeieinsatz, Gewalt und Aufarbeitung

Die Frage nach der Legitimität der Maßnahmen von RWE und der schwarz-grünen Landesregierung nur wenig mehr als ein Jahr nach der Räumung des Dorfes durch die NRW Polizei stellt sich durchaus. So lässt der NRW-Innenminister Herbert Reul im Vorwort des Verfassungsschutzberichts NRW 2023, der im April 2024 erschien, schreiben: „Wie perfide Linksextremismus daherkommt, haben wir in Lützerath gesehen, als ge­waltbereite Demonstranten aus der linksextremistischen Szene zusammen mit Klima­schützern Richtung Abbruchkante marschierten und Polizeiketten überrannten.“ Weiter heißt es in dem Bericht: „Im Januar 2023 wurde der Weiler Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier geräumt. Während ein großer Teil der Besetzer den polizeilichen Aufforderungen zum freiwilligen Verlassen der Gebäude nachkam, weigerten sich andere Besetzer, beschossen die Einsatzkräfte der Polizei mit Pyrotechnik, bewarfen sie mit Steinen oder schleuderten Brandsätze in ihre Richtung. Im Rahmen einer bereits Monate zuvor angekündigten Versammlung solidarisierten sich am 14. Januar 2023 über 1.000 Menschen, auch aus dem zivildemokratischen Bereich, mit den Extremisten, durchbrachen polizeiliche Absperrungen und begaben sich an den Rand des Tagebaus Garzweiler II. Immer wie-der kam es an dem Tag zu gewaltsamen Versuchen einer bürgerlich-extremistischen Mischszene, auch die polizeilichen Absperrungen um die Ortslage Lützerath zu durchbrechen.“

Lützerath war international zum Symbol der Klimabewegung geworden. Reul ließ Lützerath von 3.700 Beamten räumen, einem massiven Polizeiaufgebot. Es kam zu Vorwürfen, dass Beamte der NRW Polizei vor Ort sogar die Pressefreiheit einschränkten. Am Morgen des 11. Januar 2023 riegelte die NRW Polizei das Dorf ab und rückte mit mehreren Hundertschaften in das Dorf vor. 500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler demonstrierten gegen die Räumung. Am 12. Januar 2023 löste die NRW Polizei einen Gottesdienst auf, der in der Nähe von Lützerath stattfand. Die Kirchen forderten ein Moratorium der Räumung. Am 14. Januar 2023 kam es zur Großdemonstration nach Lützerath unter dem Titel „Auf nach Lützerath! Gegen die Räumung – für Kohleausstieg & Klimagerechtigkeit“. Im Laufe des Nachmittags drangen mehrere hundert Demonstranten an die Abbruchkante des Tagebaus vor. Weitere Hundert bewegten sich auf das besetzte und abgezäunte Lützerath zu. Die NRW-Beamten wendeten unmittelbaren Zwang an. Am 16. Januar verließen die letzten Aktivisten das Dorf. Bis 19. Januar 2023 waren die Gebäude niedergelegt und die Bäume gerodet. Bis heute wurde kein Gramm Kohle unter dem ehemaligen Weiler Lützerath gefördert.

Kritik am Vorgehen der NRW-Landesregierung und der NRW Polizei

Mitte März 2023 veröffentlichte das „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ einen Bericht als Demonstrationsbeobachter mit dem Titel „Entscheidung für Gewalt“ und setzte sich mit dem Verhalten der NRW-Polizei auseinander.

Das „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ stellte sein Fazit unter der Überschrift „Verletzung der Versammlungsfreiheit auf mehreren Ebenen“ so dar: „Im Brokdorf-Beschluss von 1985 stellte das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich fest, dass es der Versammlung selbst obliegt, einen für sie und ihr Anliegen geeigneten Ort des Protests zu wählen. Örtliche Beschränkungen durch Versammlungsbehörden seien nur unter sehr hohen Voraussetzungen zulässig. Mit der Allgemeinverfügung und dem damit einhergehenden Aufenthalts- und Betretungsverbot wurde dieser Grundsatz während der Räumung und Zerstörung Lützeraths aus unserer Sicht grundlegend verletzt.

Obgleich das Areal Privatgelände ist, hätte im Sinne der Verhältnismäßigkeit und des Schutzes der Versammlungsfreiheit eine Möglichkeit geschaffen werden müssen, am Ort des Geschehens zu protestieren.“ Zur Pressefreiheit stellt das Komitee fest, dass diese durch den faktischen Zwang zur polizeilichen Akkreditierung systematisch eingeschränkt wurde.

Zur Großdemonstration zieht der Bericht folgendes Fazit: „Zeigte sich die Polizeigewalt während der Räumungstage in Gestalt einer Inkaufnahme lebensgefährdernder Situationen, trat sie während Demonstrationen und Aktionen als direkte Brutalität auf. Dabei fanden diese polizeilichen Handlungen mit Verweis auf das Hausrecht von RWE zum Teil auf Gelände statt, das nicht als Firmengelände gekennzeichnet war.“

Ein besonderer Vorwurf ist, dass die Polizei mit RWE kooperierte und unter anderem den Maschinenpark von RWE nutzte. Auch habe RWE die Geschwindigkeit der Räumung vorgegeben und nicht die Polizei so ein weiterer Vorwurf. Das Komitee schreibt: „Indem die schwarz-grüne Landesregierung und die Polizei das Eigentumsrecht des RWE-Konzerns über die Grundrechte von Zivilgesellschaft und Medien stellten, machten sie sich zu Handlangern eines Energiekonzerns.“

Wann arbeitet der NRW-Landtag auf?

Aber auch der NRW-Landtag steht in der Kritik des Komitees und vor allem die Sitzung im Innenausschuss am 19. Januar 2023 in dem sich NRW-Innenminister Reul rechtfertigte. Diesem wirft das Komitee vor eine Erzählung zu schaffen, „die die Polizeigewalt als Reaktion auf eine einseitig von Demonstrierenden ausgehende Gewalt legitimieren soll.“ Dem Landtag wirft das Komitee vor, dies nicht hinterfragt zu haben.

Vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse durch die Einschätzung von Prognos, dem BUND NRW und der weiteren Deligitimierung des Protestes gegen die Räumung und das Abbaggern des Dorfes Lützerath bis in den April 2024 durch die NRW-Landesregierung, die von CDU und Grünen gebildet wird, stellt sich die Frage, ob das Parlament in Düsseldorf sich des Themas Lützerath nicht doch noch einmal annehmen sollte, um zu klären, ob das Handeln der schwarz-grünen Landesregierung legitim war.