Berlin, Selbstmordabsicht, Mutprobe, Drogeneinfluss, Reizüberflutung: Die Anlässe für eine Falschfahrt auf der Autobahn sind so unterschiedlich, dass die Vorbeugung extrem schwierig ist. Darüber ist sich die Verkehrsunfallforschung weitgehend einig. So traurig die Häufung tödlicher Geisterfahrten in diesem Oktober auch ist – statistisch gesehen ist diese Unfallart sehr selten.

Pro Jahr gibt es laut Bundesverkehrsministerium etwa 1.700 bis 2.000 Falschfahrer-Meldungen bei Polizei und Verkehrsfunk. Darin enthalten sind auch alle glimpflich verlaufenen Zwischenfälle, Telefonscherze und Irrtümer. Die meisten unfreiwilligen Geisterfahrten gehen den Forschern zufolge tatsächlich glimpflich aus, weil der Falschfahrer, der seinen Irrtum erkannt hat, in der Regel tut, was er kann, um Unfälle zu vermeiden. „Elf von 22.000 von uns untersuchten Autounfällen mit Personenschäden fallen in die Kategorie Falschfahrten“, sagt Verkehrsunfallforscher Henrik Liers von der TU Dresden. Seine Statistik reicht über zehn Jahre. Zumindest der Anteil an den Unfällen sei repräsentativ, sagt er. Sicher ist andererseits auch, dass es eine der Unfallarten mit der höchsten Lebensgefahr ist: „Bei jedem zweiten gibt es mindestens ein Todesopfer.“

Dem schließt sich Andreas Hölzel vom ADAC an: „Wenn Sie mit 130 frontal auf ein anderes Auto auffahren, das ebenfalls 130 fährt, dann haben Sie keine realistische Überlebenschance.“ Vier mögliche Ursachengruppen für eine Falschfahrt führt er an: Alkohol und Drogen, Orientierungslosigkeit, bewusstes Wenden auf der Autobahn – etwa wegen einer verpassten Ausfahrt – und schließlich Suizidabsicht. Und wer den Tod sucht, hält sich wahrscheinlich nicht an die Richtgeschwindigkeit. Pro Jahr kommen jeweils etwa 400 Menschen als Rad fahrende Verkehrsteilnehmer ums Leben, ebenso viele Personen bei Unfällen auf Landstraßen. Bei Geisterfahrten sterben pro Jahr durchschnittlich 20 Menschen.

Allein im Oktober 2012 aber waren es bis zum Wochenende schon zwölf. Diese extrem drastische Häufung kann kein Fachmann erklären. Liers‘ Statistik gibt keinen Beweis dafür her, dass es an früher einsetzender Dunkelheit oder häufigeren Depressionen als im Frühjahr oder Sommer liegt. „Es handelt sich um junge wie alte Autofahrer, um Frauen wie Männer mit oder ohne Blackout“, sagt Rainer Hillgärtner vom Autoklub ACE. Trotz des „schwarzen Oktobers“ gebe es „bislang keine belastbaren Anzeichen für die Annahme, dass Geisterfahrer häufiger im Herbst unterwegs sind“, ergänzt er. Auch die Zahl der Nebelunfälle sei in den vergangenen Jahren gesunken.

Entsprechend sind auch die Ratschläge auf Abhilfe eher spärlich. Mit Ausnahme der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) hielt kein Fachmann etwas von „Krallen“ an den Autobahnauffahrten. Wer in die falsche Richtung darüberfährt, dem werden automatisch die Reifen aufgestochen. Hölzel gibt zu bedenken, dass die Technik bei winterlichen Bedingungen noch Probleme aufwerfe, abgesehen davon, dass sie sehr aufwendig sei. Sollte sich allerdings an bestimmten Straßenabschnitten herausstellen, dass sich Falschfahrten häufen, so müsse dem mit besonders auffälliger Beschilderung entgegengewirkt werden, fordern ACE, ADAC und DPolG einhellig. „Aber wenn einer sich mit einer Geisterfahrt umbringen will, hilft gar nichts“, sagt Hölzel.

Spätfolgen des Freitods auf der Autobahn können katastrophal sein

Wer seinem Leben mit einer Geisterfahrt auf der Autobahn ein Ende setzt, richtet über Tod, Verletzung oder Vermögensschaden Unschuldiger hinaus möglicherweise noch weitere Schäden an. Die Haftpflichtversicherung des Falschfahrers zahlt nämlich nicht, wenn ihm Vorsatz nachgewiesen werden kann. Dahinter steckt die rechtstheoretische Überlegung, dass bei Versicherung illegaler Nutzung des Fahrzeugs die Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr noch weiter steigen würde.

Dieser Vorsatz muss im Einzelfall nachgewiesen werden, wie Stephan Schweda, Sprecher des Gesamtverbandes Deutscher Versicherer (GDV), auf dapd-Anfrage am Montag erklärte. Die Aussage der Polizei zu dem Unfall auf der Sauerlandlinie, wo am Wochenende ein Geisterfahrer vier Unbeteiligte mit sich in den Tod riss, hat da allerdings schon ein gewisses Gewicht: Sie gehe von Suizidabsicht aus, erklärte sie, und lieferte am Montag nach, dass der Unfallverursacher sich Minuten vor seinem Tod mit einer SMS verabschiedet habe.

Der Unfallgegner kann sich glücklich schätzen, wenn er eine Vollkaskoversicherung hat. Sie könnte in diesem Fall eintreten. Aber auch gute Rechtsanwälte könnten helfen, falls die Gegenseite den Beweis schuldig bleibt, dass der Unfallfahrer billigend in Kauf genommen hat, Dritte zu schädigen. „Da ist viel Raum für Einzelfallentscheidungen“, sagte Schweda.

Hilft all dies nicht, bleibt den Geschädigten noch ein Ausweg: die Verkehrsopferhilfe. Sie tritt als Garantiefonds bei Unfällen in Deutschland ein, „die durch nicht ermittelte oder nicht versicherte Kraftfahrzeuge verursacht werden oder in denen das Auto vorsätzlich und widerrechtlich als ‚Tatwaffe‘ eingesetzt wird“, wie es auf der Homepage heißt.

www.verkehrsopferhilfe.de

Zum Bericht über die Geisterfahrt auf der A46 am Wochenende, bei der fünf Menschen getötet wurden

Autor: Thomas Rietig, dapd, | Sascha Schürmann, dapd