Bochum | Geburtstagskind Lara weiß nicht so recht, wie ihr geschieht. Gerade noch hat sie viele Tränen geweint, weil sie ihren Vater in der Masse verloren hatte, und plötzlich singen ihr am Samstag rund 2.500 Menschen auf dem Bochumer Rathausplatz ein Ständchen. Noch während sie die Augen trocken wischt, ziehen sich ihre Mundwinkel nach oben. So viele Menschen haben noch nie für sie geträllert.

Über 50.000 Sänger machen das Ruhrgebiet am „Day of Song“ an diesem Wochenende zu einem riesigen Musikfestival. In 53 Städten sind seit Freitag und noch bis Sonntag mehr als 500 Auftritte geplant. Chormitglieder vom Kinder- bis zum Rentenalter bieten in Seniorenheimen, Kirchen, Jugendzentren und bei Gemeindefesten hiesiges Liedgut an.

200.000 Menschen singen zeitgleich das „Steigerlied“

Einer der Orte ist eben der Rathausplatz in Bochum. Dort, tief im Westen, in der von Herbert Grönemeyer besungenen Blume des Reviers, läuft am Samstag alles in E-Moll, wie Dirigent und Kreischorleiter Niels Nabring mit Bewunderung feststellt. Zum „Day of Song“ hat es Menschen aller Altersklassen, Gesinnung und Religion in die Innenstadt verschlagen. Die einen wiegen im Tack, fast wie in Trance. Mit geschlossenen Augen schmettern sie Lied für Lied voller Inbrunst. Andere wippen nur verstohlen mit dem Fuß und überlassen den Protagonisten, nämlich den Chören, das Singen.

Ziel dieser das Ruhrgebiet vernetzenden Aktion ist die Stärkung des Selbstbewusstseins der angeschlagenen Region. Außerdem solle so ein touristisches Zeichen gesetzt werden, sagt Christoph Mandera, „Day of Song“-Beauftragter in Bochum. Der Höhepunkt der Veranstaltung ist in sämtlichen Städten um 12.10 Uhr am Samstag. Dann singen alle Teilnehmer in 53 Städten zeitgleich das „Steigerlied“. Ein Titel, der so tief mit dem „Kohlen-Pott“ verwurzelt ist wie Zechensiedlungen. Nach ersten Schätzungen singen inklusive der Besucher 200.000 Menschen städteübergreifend gleichzeitig das Bergmannslied.

Kinder haben Singen geübt

In Bochum wird das Steigerlied von Abgesandten lokaler Chöre zum Besten gegeben. Hoch oben, über ihren Köpfen, steht die Blaskappelle Blechwerk auf dem Rathausbalkon und begleitet die Sänger mit Trompeten. Bei strahlendem Sonnenschein stimmen immer mehr Zuschauer ein. Zuvor wurden zahlreiche Liedhefte verteilt, damit auch die nicht so textsicheren Teilnehmer ihren Stimmbändern freien Lauf lassen können. Spätestens beim Lied „Hejo, spann den Wagen an“ singt der Rathausplatz wie aus einer Kehle. Pinke Luftballons und Schirmhauben mit der Aufschrift „Sing“ dominieren das Bild.

Viele Kinder sitzen bei ihren Vätern auf den Schultern. Gerne kopieren sie Teile der Choreographie, die auf der Bühne aufgeführt wird. „In allen Grundschulen Bochums wurden in den vergangenen Wochen die gleichen Lieder geübt, damit jedes Kind mitsingen kann, wenn der Kinderchor die Bühne betritt“, erklärt Gisela Eibeck, Leiterin der Musikschule Bochum. Und das tun sie – so laut sie können.

Am Rathausplatz ist indes aus Laras verhaltenem Lächeln ein ausgewachsenes Strahlen geworden. Denn nach dem Geburtstagsständchen ist auch endlich ihr Vater aufgetaucht. Nun sitzt sie auf seinen Schultern und singt aus voller Lunge, gemeinsam mit den anderen 2.500 Besuchern.

Autor: David Kordes, dapd