Köln | aktualisiert | Die türkische Wahlkommission stellte auch die Ergebnisse der Türkischstämmigen, die abgestimmt haben, in der Bundesrepublik zur Verfügung. In Dortmund stimmten über 75 Prozent für die Änderung der Verfassung, in Düsseldorf über 69 Prozent und in Köln waren es 64,06 Prozent. Mit Nein stimmten 35,93 Prozent. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen wirft der Bundesregierung Versagen in der Integrationspolitik vor.

63,2 Prozent stimmen in Deutschland mit „Ja“

In allen 13 Wahllokalen in Deutschland lagen die Befürworter das Verfassungsreferendums vor den Gegnern. Die Wahlbeteiligung lag in Deutschland so die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu bei rund 50 Prozent. In Deutschland konnten vom 27. März bis 9. April 1,4 Millionen türkische Wahlberechtigte ihre Stimme abgeben. Rechnet man alle Stimmen in Deutschland zusammen, so stimmten nach dem vorläufigen Ergebniss, die türkische Opposition kündigte an das Ergebnis anzufechten, 63,2 Prozent der in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger, die sich an der Wahl beteiligten, für die Verfassungsänderung.

Kritiker werfen diesen vor in Freiheit zu leben und die Autokratie in der Türkei zu wählen. Am schlechtesten schnitt das Lager der „Ja“-Sager in Berlin ab, wo nur 50,13 Prozent der Wähler für das Verfassungsreferendum stimmten. Köln lag dagegen über dem Durchschnitt. Auch in anderen europäischen Staaten stimmten die Türkeistämmigen für die Verfassungsänderung wie Belgien, Dänemark, Niederlande und Österreich. Aus den USA und Spanien gab es dagegen ein klares Nein.

Kemal Ergün, Vorsitzender der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) forderte dazu auf, das Wahlergebnis zu respektieren und wandte sich gegen Anfeindung oder Ausgrenzung von Türkeistämmigen im Ausland: „Ab sofort sind alle Akteure aufgerufen, sich für die Etablierung der Kompromisskultur einzusetzen und zur Versöhnung und Vereinigung der Lager beizutragen.“

Dagdelen wirft Bundesregierung Versagen in Integrationspolitik vor

Die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen wirft der Bundesregierung Versagen in der Integrationspolitik vor: Die Zustimmung der Deutsch-Türken für das Verfassungsreferendum sei die „Quittung für die falsche Integrationspolitik“, sagte sie der „Bild“ (Dienstag). Die Bundesregierung habe Erdogans Netzwerk in Deutschland jahrelang gewähren lassen und sogar versucht, seine Organisationen für die Integrationspolitik einzuspannen, kritisierte sie. „So hat man den Bock zum Gärtner gemacht und darf sich über das Ergebnis nicht wundern“, erklärte Dagdelen und forderte, die „reaktionäre Politik der islamistischen AKP über ihre Parteien beziehungsweise Lobbyorganisationen und den Moscheeverband DITIB in Deutschland“ endlich zu stoppen.

Wahlbeobachter: Verstöße gegen internationale Standards bei Türkei-Referendum

Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarats sehen Verstöße gegen internationale Standards beim Referendum über eine Verfassungsänderung in der Türkei. Unter anderem habe es keine unparteiische Berichterstattung gegeben, kritisierte Delegationsleiterin Tana de Zulueta am Montag. Die Berichterstattung sei von der Ja-Kampagne dominiert gewesen.

Parteien, die sich gegen die Verfassungsänderung eingesetzt hatten, seien behindert worden. Zudem sei die Möglichkeit der Wähler, eine informierte Entscheidung zu treffen, beschränkt gewesen. Kritik äußerten die Beobachter auch daran, dass auch nicht verifizierte Stimmzettel als gültig gewertet worden seien.

Roth: Integrationsprobleme führten zu Erdogans Wahlerfolg unter Deutsch-Türken

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) führt den Wahlerfolg des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei den türkischstämmigen Wählern in Deutschland auf Fehler bei der Integration hierzulande zurück. „Ja, wir haben ein Integrationsproblem“, sagte Roth der „Welt“. Es seien gravierende Fehler gemacht worden: „Deutschland hat sich über viele Jahre nicht offen gezeigt. Wie oft hat man unser Land als Teil des christlichen Abendlandes dargestellt und damit auch gesagt, dass Muslime nicht dazugehören“, kritisierte die Grünen-Politikerin. „Wie oft hat man immer wieder in Frage gestellt, ob die Türkei überhaupt zu Europa gehört und ob es den Doppelpass geben soll. Das mussten viele Menschen als ausgrenzend empfinden.“

Und dann habe Erdogan diesen Menschen im Wahlkampf gesagt: „Ich gebe euch euren Stolz zurück“, sagte Roth. „Das fällt dann auf fruchtbaren Boden.“ Erdogans antideutsche Kampagne habe offenbar Erfolg gezeigt: „Tatsächlich sind ja im Umgang mit unseren türkeistämmigen Mitbürgern in den vergangenen Jahrzehnten Fehler gemacht worden, die Verletzungen hinterlassen haben. Ein türkischer Nachname ist auch heute noch eine Hürde beim Zugang zu Wohnung oder Ausbildungsplatz“, kritisierte Roth. Die frühere Grünen-Vorsitzende forderte stärkere Integrationsbemühungen vor allem seitens der Deutschen: „Wir müssen uns extrem bemühen um diese Menschen, die glauben, dass Erdogans Putsch von oben gut sei für die Türkei. Wir müssen viel stärker den Wert von Demokratie und Rechtsstaat in und mit der EU bewerben.“

Dies gelte nicht nur wegen der Erdogan-Anhänger in unserem Land: „Auch so manchem AfD-Anhänger muss der Wert einer freiheitlichen Gesellschaft noch viel stärker klar gemacht werden.“ Das Modell eines demokratischen Europas müsse entschiedener gegen diejenigen verteidigt werden, die es ablehnten. Außerdem forderte Roth, türkischen Menschen in Deutschland das kommunale Wahlrecht zuzugestehen und ihnen auch die Einbürgerung zu erleichtern. „Das wäre ein Zeichen der Gleichberechtigung.“ Zugleich warnte die Bundestagsvizepräsidentin vor türkeifeindlichen Ressentiments: „Wir dürfen nicht zulassen, dass jetzt eine antitürkische Stimmung aufkommt. Die Hälfte der Menschen in der Türkei und der Großteil der Türkeistämmigen hier in Deutschland sind für Demokratie. Diese prodemokratischen Kräfte müssen wir jetzt stärken.“

Özdemir für Prüfung sämtlicher Finanzströme in die Türkei

Grünen-Chef Cem Özdemir fordert nach dem Referendum in der Türkei eine umfassende Prüfung sämtlicher Finanzströme in das Land: „Wir wollen die türkische Bevölkerung nicht bestrafen, das wäre falsch. Aber wir wollen Erdogans antidemokratische Agenda nicht auch noch mitfinanzieren“, sagte er dem „Handelsblatt“. „Aus dem Ergebnis folgt, dass es keine Aufnahme der Gespräche um eine Ausweitung der türkisch-europäischen Zollunion geben darf, ohne eine klare Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, sagte Özdemir, der auch Spitzenkandidat seiner Partei im Bundestagswahlkampf 2017 ist.

„Ebenso sollten keine deutschen Finanzhilfen zur Abfederung der Wirtschaftskrise in der Türkei fließen und europäische Heranführungshilfen ausschließlich an zivilgesellschaftliche, pro-demokratische Organisationen.“ Özdemir stellte klar, dass „mit dem orientalischen Despoten Erdogan“ die Türkei nicht Mitglied der Europäischen Union werden könne. Die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU lägen faktisch auf Eis und sollten da auch bleiben. „Eine Wiedereinführung der Todesstrafe würde jedoch tatsächlich das Aus der Verhandlungen bedeuten.“

Özoguz warnt vor pauschaler Kritik an Deutsch-Türken

Integrations-Staatsministerin Aydan Özoguz (SPD) hat davor gewarnt, die in Deutschland lebenden Türken wegen ihres Abstimmungsverhaltens beim Referendum pauschal zu kritisieren. „Unter dem Strich haben nur etwa 14 Prozent aller hier lebenden Deutsch-Türken mit Ja gestimmt“, sagte Özoguz der „Saarbrücker Zeitung“ (Dienstagsausgabe). „Das ist klar nicht die Mehrheit. Das muss man mal zur Kenntnis nehmen.“ Die Politikerin wies darauf hin, dass die meisten Deutsch-Türken gar nicht zur Wahl gegangen seien. Das Auftreten von Nationalisten unter Migranten sei darüber hinaus „keine Besonderheit der Deutsch-Türken, so wenig es uns gefallen kann“, sagte Özoguz.

Das gebe es unter allen Migrantengruppen auch in anderen Ländern. Die Staatsministerin rief zur „Mäßigung“ in der Debatte darüber auf. „Man kann das kritisieren, auch hart, aber man darf nicht immer wieder so tun, als kämen diese Menschen von einem anderen Stern.“

Forderungen aus der Union, die EU-Beitrittsgespräche zu stoppen, lehnte Özoguz ab. „Noch bevor ein amtliches Ergebnis vorliegt, ist jede derartige Forderung überzogen und verfrüht.“ Zudem müsse abgewartet werden, „was Erdogan mit der neuen Machtfülle macht“. Das Präsidialsystem allein sei kein Ausschlussgrund. „Die Frage ist, wie es weiter geht. Die Einführung der Todesstrafe ist klar eine rote Linie“, so die Staatsministerin.

Österreich fordert Stopp der EU-Vorbeitrittshilfen

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz fordert den Stopp der EU-Vorbeitrittshilfen. „Es muss endlich sicher gestellt werden, dass nicht noch mehr Geld für einen Beitritt, der ohnehin nicht stattfindet, in die Türkei fließt“, sagte er gegenüber „Bild“ (Dienstag). Es brauche keine Annäherungsunterstützung, weil es seit Jahren keine Annäherung, sondern nur Entfernung gäbe, erklärte der Diplomat.

Man dürfe nach dem Referendum nicht so tun, als wäre nichts passiert, sagte Kurz. Gegenüber „Bild“ sagte der österreichische Politiker: „Die Türkei entwickelt sich in eine immer negativere Richtung. Ich sehe keinen Spielraum für Visafreiheit. Wir sollten lieber diejenigen unterstützen, die sich in der Türkei für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einsetzen. Die Türkei soll von uns keine Versprechungen mehr bekommen. Erdogan hat bewusst einen antieuropäischen Wahlkampf geführt und Europa frontal attackiert. Nazi-Vergleiche sind nichts, was man ignorieren kann.“ Das Referendum habe das Land nur noch weiter weg von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geführt.

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Autor: Andi Goral, dts