Berlin, Köln | aktualisiert | Eigentlich wäre es ein Fall für Günter Wallraff: Ein Angestellter beklagt sich über widrige Arbeitsbedingungen. Seinem Chef wirft er eine schlechte Bezahlung und Beihilfe zum Sozialbetrug vor – diesmal ist aber Wallraff selbst der Beschuldigte. Es ist sein früherer Mitarbeiter, der den Enthüllungsautor an den Pranger stellt. Wallraff weist die Kritik von sich. Pünktlich zum 70. Geburtstag, den der Mr. Undercover am 1. Oktober feiert, bröckelt sein Denkmal. „Wir bräuchten viel mehr Wallraffs“ – „Netzwerk Recherche“-Vorstand Grill lobt die Hartnäckigkeit des Enthüllungsjournalisten.

Dieses hat er sich mit unzähligen Reportagen, Dokumentationen und Filmen über die Benachteiligten der Gesellschaft hart erkämpft. Er recherchierte verdeckt als Obdachloser in einer Asylunterkunft, als Alkoholiker in einer Psychiatrie und deckte Fälle von Antisemitismus auf. Unter dem Namen Hans Esser schlich er sich als Reporter bei der „Bild“-Zeitung ein und legte in seinem Report „Der Aufmacher. Der Mann, der bei ‚Bild‘ Hans Esser war“ die Arbeitsmethoden des Boulevardblatts offen.

Seine wichtigsten Werkzeuge: Ein Tonbandgerät und eine versteckte Kamera. Anerkennung erhielt Wallraff für seinen Einsatz als türkischer Hilfsarbeiter Ali, als der er sich in den 80ern als Hilfskraft bei einer Fast-Food-Kette, auf einer Großbaustelle und als Leiharbeiter durchschlug. Das Buch über seine bestürzenden Erlebnisse wurde über vier Millionen Mal verkauft und in mehr als 30 Sprachen übersetzt.

Seine jüngeren Recherchen führten ihn in ein Call-Center, in eine Großbäckerei sowie zum Paketzusteller GLS. Seine Bücher, Filme und Reportagen füllen inzwischen ganze Bücherregale. Es ist verblüffend, wie umtriebig der in Köln lebende Familienvater im höheren Alter noch immer ist. „Der Druck der Öffentlichkeit kann enorm viel bewegen“, sagte er kürzlich in einem Interview mit der Nachrichtenagentur dapd.

Asyl für Verfolgte

Neben seinen Undercover-Einsätzen hat sich Wallraff auch immer wieder für Einzelschicksale stark gemacht. Salman Rushdie gewährte er Unterschlupf, als dieser nach der Veröffentlichung der „Satanischen Verse“ im Iran zum Tode verurteilt worden war. Auch dem iranischen Rapper Shahin Najafi, gegen den im Iran wegen angeblicher Gotteslästerung ein Kopfgeld ausgesprochen wurde, soll er ein Versteck geboten haben.

Für seine Arbeit wurde Wallraff mehrfach ausgezeichnet. Die Spezialausgabe des internationalen Literaturfestivals Lit.Cologne ehrt ihn im Oktober mit einem Festakt. Mit seiner jüngsten Reportage über den Paketzusteller GLS geht er ins Rennen um den Deutschen Fernsehpreis. Die Verleihung steht am 2. Oktober an. Es wäre der Tag nach seinem Geburtstag.

Hier endet die eine Geschichte. Die andere Geschichte begann vor wenigen Wochen. Da ging sein früherer Mitarbeiter Andre Fahnemann selbst an die Öffentlichkeit. Auf Basis der Vorwürfe leitete die Staatsanwaltschaft Köln mehrere Ermittlungsverfahren gegen Wallraff ein. Der Autor soll Fahnemann Entgelt vorenthalten und Beihilfe zum Sozialbetrug geleistet haben – so lautet der Verdacht. Zudem steht ein Anfangsverdacht der Steuerhinterziehung im Raum.

Auch Wallraffs Recherchemethoden gelten als umstritten. Seine Rolle entspricht oft mehr der eines Aktivisten statt eines Journalisten. Wer Wallraff in einer Talkshow oder in Gerichtssälen erlebt hat, der ist sich sicher: Der hat sich in die Sache verbissen.

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„Wir bräuchten viel mehr Wallraffs“ – „Netzwerk Recherche“-Vorstand Grill lobt die Hartnäckigkeit des Enthüllungsjournalisten

Der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff hat nach Einschätzung des „Netzwerk Recherche“-Vorstands Markus Grill Herausragendes geleistet. „Es gibt niemanden, der so hartnäckig und mit so einer Ausdauer auf Missstände in der Arbeitswelt aufmerksam macht wie Wallraff“, sagte der zweite Vorsitzende des Journalistenvereins der Nachrichtenagentur dapd. Junge Journalisten könnten sich an ihm orientieren: „Nicht an seinem Stil, aber an seiner Methode. Vorbild ist Wallraff in seiner Hartnäckigkeit, in seiner Mühe, die er sich mit einzelnen Geschichten macht.“

Wallraffs Methode, verdeckt zu recherchieren und sich in Betriebe einzuschleichen, habe in diesem Feld absolut seine Berechtigung, da er so an Informationen gelange, an die er auf andere Weise nicht herankomme. „Wir bräuchten viel mehr Wallraffs, die hartnäckig Missstände recherchieren und nicht nur oberflächig über ein Thema berichten“, ergänzte Grill. Die Verantwortung hierfür dürfe nicht allein auf Wallraff abgewälzt werden.

Dennoch müsse sich der 69-Jährige die Frage gefallen lassen, ob er sich heute noch den richtigen Themen widme, sagte Grill. Denn dass die Arbeitsbedingungen bei Paketzustellern oder in einer Großbäckerei oft schlecht seien, sei „nicht wirklich neu“. Bei früheren Wallraff-Geschichten über die Arbeitsweise der „Bild“-Zeitung und die Situation von Gastarbeitern sei dies noch anders gewesen.

„Ich würde mir wünschen, dass jemand wie Wallraff mal eine Geschichte über das Innenleben von Facebook oder Google schreibt“, erklärte Grill. Dies seien die neuen Konzerne, über die viel zu wenig bekannt sei, etwa in Bezug darauf, wie sie mit Informationen handeln.

Die jüngst aufgekommenen Kritik an Wallraff spiele für Grill bei der Beurteilung seiner Lebensleistung eine untergeordnete Rolle. Wallraff wird vorgeworfen, einen Mitarbeiter illegal beschäftigt und bei Recherchen unsauber gearbeitet zu haben. „Diese Dinge müssen aufgeklärt werden“, betonte Grill. „Es schmälert aber nicht seine Leistung und sein Verdienst, auf Schattenseiten in unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen, auf die man sonst nicht so gerne mehr blickt“.

Auch ob Wallraff ein guter Autor sei, sei durchaus umstritten. „Aber dennoch wird man über ihn noch reden, wenn man alle seine Kritiker schon längst vergessen hat“, sagte Grill.

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Hintergrund: Von Hans Esser bis Kwami Ogonno: Günter Wallraffs Reportagen

Der Kölner Schriftsteller und Journalist Günter Wallraff ist seit fast 50 Jahren Missständen in der Gesellschaft und der Arbeitswelt auf der Spur. Seine Form der verdeckten Recherche, für die er immer wieder neue Identitäten annimmt, sind zu Wallraffs Markenzeichen geworden. Im Folgenden dokumentiert dapd die wichtigsten Reportagen des Enthüllungsjournalisten:

– Von 1963 bis 1965 arbeitete Wallraff in verschiedenen westdeutschen Industriebetrieben und berichtete in der Gewerkschaftszeitung sowie in einem Reportageband von seinen Erfahrungen.

– Für die 1969 veröffentlichten „13 unerwünschten Reportagen“ ließ sich Wallraff unter anderem als vermeintlicher Alkoholiker in eine psychiatrische Klinik einweisen, nahm die Rolle eines Obdachlosen sowie eines Studenten auf Zimmersuche an.

– 1976 lockte er den ehemaligen portugiesischen Staatspräsidenten, General António Ribeiro de Spínola, in eine Falle und enthüllte dessen Putschpläne.

– Wallraffs wohl größter Coup war seine Arbeit in der hannoverschen Lokalredaktion der „Bild“-Zeitung, wo er 1977 mehrere Monate unerkannt unter dem Namen Hans Esser arbeitete. Das Erlebte dokumentierte er in dem Report „Der Aufmacher. Der Mann, der bei Bild Hans Esser war.“

– 1985 veröffentlichte Wallraff seinen Reportageband „Ganz unten“, für den er mit Maske und Toupet in die Rolle des türkischen Hilfsarbeiters Ali Levent schlüpfte. Der Bericht über die Schattenseiten des Leiharbeitergeschäfts, zu dem auch ein Dokumentarfilm erschien, wurde zu einem internationalen Bestseller.

– 2007 sorgte seine Reportage über die Arbeitsmethoden in Call-Centern für Aufsehen.

– 2008 arbeitete Wallraff einen Monat lang in einer Großbäckerei im Hunsrück, um anschließend die schlechten Arbeitsbedingungen, Sicherheitsmängel und Hygienezustände öffentlich zu kritisieren. Allerdings wurden seine Recherchen vor Gericht vor kurzem entkräftet. Der frühere Geschäftsführer wurde freigesprochen.

– Im Winter 2008/2009 war verkleidete sich Wallraff als Obdachloser „Wolfgang“ und lebte auf Straßen, unter Brücken, in Obdachlosenasylen und Not-Übernachtungsstätten.

– Für seinen Kinofilm „Schwarz auf Weiß“ (2009) war Wallraff als dunkelhäutiger Somalier Kwami Ogonno in Deutschland unterwegs, um unter anderem in Eckkneipen und Kleingartenvereinen den alltäglichen Rassismus aufzudecken.

– Im Mai 2012 prangerte Wallraff in einer Reportage für das „Zeit Magazin“ und den Privatsender „RTL“ die Arbeitsbedingungen beim Paketzusteller GLS an.

Autor: Fabian Wahl, dapd, Foto: Philipp Guelland/dapd
Foto: Günter Wallraf