Berlin | aktualisiert | SPD-Chef und Kanzlerkandidat Martin Schulz hat die CDU für ihre Wahltaktik massiv angegriffen. Er bezeichnete das Vorgehen der CDU auf dem SPD-Sonderparteitag in Dortmund als „Anschlag auf die Demokratie“. Schulz kritisierte Merkel für ihre Passivität im Wahlkampf: Während die SPD in allen Wahlkämpfen Konzepte und Ideen vorstelle und sich in Debatten stürze, schweige die CDU. Hinweis der Redaktion: Im Anhang an diese Meldung finden Sie die Rede des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz im Wortlaut.

Dieses Modell werde 2017 nicht noch einmal funktionieren, so der SPD-Kanzlerkandidat. Er warf Merkel vor, eine sinkende Wahlbeteiligung zu fördern und bezeichnete dies als „asymmetrische Demobilisierung“. CDU und CSU wollten sich „durchwursteln“, dagegen wolle er mit dem SPD-Programm vorgehen.

Zugleich warb Schulz für ein umfangreiches Investitionsprogramm: Die Infrastruktur dürfe „nicht weiter kaputtgespart werden“. Die Überschüsse müssten „in die Hand genommen werden“, um in Infrastruktur, Bildung und Forschung investieren.

Martin Schulz gegen Große Koalition nach Bundestagswahl

Der SPD-Parteichef und Kanzlerkandidat, Martin Schulz, hat sich von einer möglichen Großen Koalition unter Führung von Bundeskanzlerin Merkel, nach der Bundestagswahl, distanziert. In der ARD-Sendung „Bericht vom Parteitag der SPD“, sagte Schulz: „Ja, ganz sicher hat eine GroKo unter Angela Merkel keine Zukunft, weil, wir wollen diese GroKo nicht und – offen gestanden – mein Eindruck ist, die andere Seite will die auch nicht.“ Außerdem verteidigte er seinen Entschluss, Anfang des Jahres kein Regierungsamt übernommen zu haben: „Ich bin deshalb nicht in die Regierung eingetreten, weil ich die Regierung ablösen will und finde, es ist ehrlich; dann kann man nicht hingehen und sagen: vormittags rette ich die Welt gemeinsam mit Frau Merkel und nachmittags sage ich: das ist aber alles falsch.Das fänden die Leute nicht richtig.“ Nach dem Beschluss des Parteitags, sich für die Aussetzung der Abschiebungen nach Afghanistan einzusetzen, stellte Schulz klar, das gelte nicht für Kriminelle und Gefährder. Schulz sagte: „Wer in diesem Land Terroranschläge plant, wer hierher kommt und unschuldige Bürger töten will, der kann ja nicht auf den Schutz des Deutschen Staates rechnen. Diese Leute werden selbstverständlich und möglichst schnell abgeschoben.“

SPD-Sonderparteitag beschließt Wahlprogramm einstimmig

Der außerordentliche SPD-Bundesparteitag hat das Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2017 ohne Gegenstimmen beschlossen – bei einer Enthaltung. „Mit dem rede ich dann gleich mal“, kommentierte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz das Ergebnis. Das Programm steht unter der Überschrift „Zeit für mehr Gerechtigkeit“.

Es soll laut Parteikommunikation „für mehr Gerechtigkeit sorgen, unsere Zukunft sichern und Europa stärken“. Es war zwei Jahre an dem Programm gearbeitet worden. „Lasst uns dafür sorgen, dass die Bundesrepublik Deutschland sozialdemokratisch-links geführt wird“, rief Schulz den Delegierten zum Abschluss des Parteitages in Dortmund zu.

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Die Rede von Martin Schulz auf dem SPD-Parteitag in Dortmund am 25. Juni im Wortlaut:

[Wortlaut in kursiv gesetzt]

 Liebe Genossinnen und Genossen! Liebe Freunde! Verehrte Gäste!

Herzlich willkommen auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, auf dem wir unser Regierungsprogramm für die nächste Legislaturperiode verabschieden wollen. Ein Regierungsprogramm, an dem wir alle gearbeitet haben. Auf allen Ebenen haben wir über dieses Programm diskutiert – leidenschaftlich, manchmal auch sehr kontrovers. Wir haben zwei Jahre lang hart gearbeitet, um heute ein Programm mit den besten Konzepten für unser Land und für die Zukunft unseres Landes zu beschließen.
 
 Ich sage euch: Ich bin stolz auf unsere Arbeit, und ich bin all denjenigen dankbar, die viel Arbeit, viel Kraft und viel Engagement in diesen Prozess gesteckt haben. Ich denke, wir werden ein Programm verabschieden, auf das wir stolz sein können.
 
 Bevor wir aber dazu kommen, es zu verabschieden, will ich euch, liebe Genossinnen und Genossen und liebe Gäste, eine Geschichte erzählen. Es ist die Geschichte von der asymmetrischen Demobilisierung. Ein bekannter Meinungsforscher hat Angela Merkel im Jahre 2009 einen taktischen Rat gegeben: „Sagen Sie nichts. Nehmen Sie zu nichts Stellung. Beziehen Sie keine konkrete Position.“ Zugegeben, es war eine erfolgreiche Strategie.
 Während wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in allen Wahlkämpfen Konzepte vorstellen und Stellung beziehen, während wir uns mit unseren Ideen der öffentlichen Debatte und Auseinandersetzung stellen, wird auf der anderen Seite geschwiegen. „Es gibt ja Angela Merkel; das reicht ja.“ Ein erfolgreiches Modell 2009, auch ein erfolgreiches Modell 2013 – aber nicht mehr im Jahre 2017!
 
 Ich erzähle die Geschichte nicht von ungefähr, die Geschichte von der asymmetrischen Demobilisierung. Ich erzähle sie sehr bewusst. Jeder und jedem muss klar sein, was es bedeutet, wenn eine Regierungszentrale, wenn das Hauptquartier einer Regierungspartei systematisch beschließt, die Debatte um die Zukunft des Landes zu verweigern, wenn sie sagen: Wir nehmen billigend in Kauf, dass die Menschen nicht zur Wahl gehen. Im Gegenteil: „Wir fördern sogar bewusst das Absinken der Wahlbeteiligung, weil wir ja wissen, dass die sinkende Wahlbeteiligung zulasten der anderen geht.“ Wenn das Hauptquartier einer Partei und eine Regierungszentrale das Absinken der Wahlbeteiligung mit System betreiben, mit Vorsatz, als wahltaktische Maßnahme, dann nennt man das in Berliner Kreisen vielleicht asymmetrische Demobilisierung. Ich nenne das einen Anschlag auf die Demokratie.
 Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Delegierte, ich danke euch für euer zahlreiches Kommen, den 6 000 Gästen, die heute bei uns sind, allen, die bereit sind, in diesen Wahlkampf mit Engagement, mit Leidenschaft und Kraft zu gehen. Seit Januar sind 20 000 Menschen in die SPD eingetreten. 20 000!
 
 So eine Eintrittswelle hat es zuletzt 1998 gegeben. Die Menschen, die sich jetzt bei uns engagieren, kommen aus allen Regionen des Landes, sie kommen aus allen Bevölkerungsgruppen, und sie kommen aus allen Generationen. Es sind viele dabei, die jetzt zum ersten Mal den Schritt machen, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren, die mit uns allen gemeinsam etwas bewegen wollen, die ihr Herz über die Hürde werfen und sagen: Ja, ich bin dabei! Viele von denen, die das sagen, sind heute zum ersten Mal auf einem SPD-Parteitag, hier bei uns in der Westfalenhalle. Euch, den neuen Genossinnen und Genossen, ein besonders herzliches Willkommen!
 Aber warum sind gerade jetzt so viele zu uns gekommen, um sich mit uns zu engagieren und bei uns mitzuarbeiten? Ich glaube, weil sie, wie wir alle, spüren, dass es einen tiefen Grund gibt, jetzt anzupacken, jetzt mitzumachen. Es gibt einen epochalen Wandel, den wir alle spüren.
 
 Um welche Fragen handelt es sich? Was sind die Dinge, die diesen epochalen Wandel ausmachen? Erstens geht es um die Frage, wie wir aus technologischen und wirtschaftlichen Innovationen sozialen Fortschritt gestalten. Zweitens geht es um die Frage, wie wir unsere Gesellschaft in einer Zeit rasanter Veränderungen zusammenhalten, wie wir Sicherheit im Wandel schaffen und zugleich für Gerechtigkeit sorgen. Und es geht drittens – ich glaube, das ist ganz zentral – um die Schicksalsfrage unseres Kontinents. Es geht darum, wie wir das demokratische Europa stärken. Es geht darum, wie wir den Frieden sichern in einer Welt, in der der Frieden bedroht ist.
 Liebe Genossinnen, liebe Genossen, das sind die drei großen Fragen, die viele umtreiben. Angesichts dieser Fragen wollen viele mitmachen, haben viele gemerkt, dass eine bessere Zukunft nicht von alleine kommt. Und sie haben sich für die Sozialdemokratie entschieden.
 
 Denn unser Auftrag ist seit jeher, die Würde des Menschen in Zeiten gewaltiger Umbrüche zu sichern, Fortschritt zu gestalten und immer den Menschen, immer das Individuum, immer die einzelne Person, den einzelnen Mann, die einzelne Frau, das einzelne Kind in den Mittelpunkt dieses Wandels und dieses Fortschritts zu stellen. Das, die Würde des Menschen im Fortschritt zu verwirklichen, ist die Mission der Sozialdemokratie, das ist die Mission der SPD.
 
 Unsere Partei hat sich in der Industrialisierung den entfesselten Kräften des Kapitalismus entgegengestellt. Aber auch im 21. Jahrhundert wirken solche entfesselten Kräfte. Allerdings wirken sie heute global. Es sind die Kräfte, die die Umwelt zerstören. Sie spekulieren hemmungslos an den Börsen, zum Beispiel auf Nahrungsmittel, weil sie wissen, dass die Verknappung der Nahrung den Preis für die Nahrungsmittel in die Höhe treibt, was dazu führt, dass der Hunger der einen der Profit der anderen ist. Was für ein perverses System, dem man sich in den Weg stellen muss!
 Sie verkaufen Waffen und nehmen die Destabilisierung ganzer Regionen durch ihre rücksichtslose Ausbeutung in Kauf. Sie nehmen Kriege, Krisen und Hunger als Folge ihres Handelns billigend in Kauf.
 An dieser globalen Entwicklung beteiligt sich die Volksrepublik China genauso wie die Vereinigten Staaten von Amerika und leider auch wir Europäer. Diese Art von Politik führt zu Wanderungsbewegungen, die nicht aufhören werden, die menschenunwürdig sind und die aus dem Mittelmeer ein Massengrab machen. Die Macht der Profitmaximierung ohne jede Rücksicht zerstört die Würde des Menschen. Diese Kräfte zu zivilisieren, ist die Aufgabe der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert. Unsere Aufgabe ist es, den Wandel anzupacken.
 
 Unsere Aufgabe ist es, den Wandel anzupacken, ihn anzunehmen und ihn zu einem Erfolg zu machen.
 
 Unsere Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind dabei unser Kompass. Gerade weil die Welt sich schneller dreht, gerade weil sie in einem täglichen Wandel ist, halten wir an diesen Grundwerten fest. Ja, manchmal sagt man uns, das sei ein bisschen altmodisch und ein bisschen antiquiert. Nein, im Gegenteil: In einer sich wandelnden Welt geben diese Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität Kraft, Orientierung und Hoffnung. Wer heute versucht sich ohne Kompass durchzuwursteln, verliert die Richtung. Und wer die Richtung verliert, der verliert die Zukunft. Aber die CDU und die CSU, die wollen sich durchwursteln. Wir haben ein anderes Programm, das wir heute verabschieden werden!
 
 Wir stellen uns der großen Herausforderung unserer Zeit: der Digitalisierung. Sie verändert fast alle Bereiche unserer Gesellschaft, unseres Lebens und unseres Alltags. Sie wird bestimmen, wie wir leben. Wie wir kommunizieren, bestimmt sie heute schon. Sie wird bestimmen, wie wir arbeiten und wie wir wirtschaften, wie wir Freiheit und Demokratie gestalten. Uns allen hier muss klar sein: Das Digitale ist politisch.
 Unser Anspruch muss es sein, aus dem technischen Fortschritt der Digitalisierung auch einen gesellschaftlichen Fortschritt zu machen. Unser Anspruch muss es sein, da Grenzen zu setzen, wo es Fehlentwicklungen gibt, wo ungebremste Kommerzialisierung und auch totalitäre Tendenzen unser Gesellschaftsmodell untergraben, da, wo der Mensch zum Objekt gemacht wird, zum Datenlieferanten mit Ohren.
 
 Unser Anspruch muss es aber auch sein, zugleich die Chancen zu ergreifen, die die Digitalisierung bringt, die Chancen, die sich eröffnen für Emanzipation, für Teilhabe und für sozialen Aufstieg.
 
 Ich habe in den letzten Monaten mit vielen Kreativen gesprochen, und was ich immer wieder gehört habe, ist: Wenn ihr wollt, dass digitale Start-ups in Deutschland erfolgreich sind, dann brauchen wir nichts weniger als einen Kulturwandel in unserem Land. Wenn wir es richtig anpacken, hilft die Digitalisierung, neue, gut bezahlte und humane Arbeitsplätze zu schaffen. Dann hilft sie, Familie und Beruf besser zu vereinbaren. Dann hilft sie, unser Gesundheitssystem zu verbessern. Dann hilft sie, Stadt und Land durch bessere Mobilität zu vernetzen. Dann hilft sie, uns neue Bildungschancen zu eröffnen. Wir wollen uns aber nicht allein am technisch Machbaren oder gar am möglichst höchsten Profit orientieren. Nein, auch hier wollen wir den Menschen, das Individuum, den Einzelnen und die Einzelne in den Mittelpunkt der Veränderung stellen.
 
 Deshalb bin ich den Gewerkschaften so dankbar, den vielen engagierten Kolleginnen und Kollegen in den Betriebsräten, die sich gerade intensiv in die Digitalisierungsdebatte einbringen und helfen, die Dinge in eine richtige Richtung zu bringen. Denn die Innovationen entstehen vor allem in den Betrieben. Deshalb brauchen wir mehr und nicht weniger betriebliche Mitbestimmung; denn wir wollen zeigen, dass ein moderner Sozialstaat auch im digitalen Zeitalter möglich ist und gelingt.
 
 Deshalb ist es schön, dass die gesamte Führungsriege der deutschen Gewerkschaften bei uns ist, mit Reiner Hoffmann an der Spitze.
 
 Innovationen entstehen eben in den Betrieben. Aber im digitalen Zeitalter bedarf es großer Initiativen. Unser Programm atmet genau diesen Geist, die Zukunft zu gestalten, indem wir investieren. Wir wollen die digitale Bildung in die Schulen, in die Berufsschulen und in die Weiterbildung bringen. Deswegen werden wir dafür sorgen, dass die Substanz unseres Staates nicht weiter kaputtgespart wird, sondern dass die notwendigen Investitionen in unsere Schulen mit ordentlichen Gebäuden und mit moderner Ausstattung, mit genügend Lehrkräften und mit genügend Schulsozialarbeitern endlich angepackt werden.
 Wir wollen, dass die Überschüsse endlich in die Hand genommen werden. Wir werden sie in die Hand nehmen, um in Infrastruktur, in Forschung und in Entwicklung zu investieren. Ja, lasst uns doch anspruchsvoll sein!
 Im Jahr 2025 wollen wir in Deutschland eine der modernsten digitalen Infrastrukturen der Welt haben, in den Metropolen genauso wie in den Klein- und Mittelstädten und auf dem Land. Das wollen wir nicht als Selbstzweck; denn jeder weiß doch hier in diesem Haus, dass wir investieren müssen aus einem ganz simplen Grund: Ein schnelles Netz ist die entscheidende Frage für die Zukunft Deutschlands. Wer da nicht investiert, verspielt die Zukunft der Bundesrepublik.
 
 Kurzum: Wir brauchen in Deutschland und in Europa ein klares Bekenntnis zu einer nachhaltigen Wachstumsstrategie, zu einer innovativen Industriepolitik, und wir brauchen vor allen Dingen die Stärkung der kleinen und mittleren Unternehmen. Denn dort, bei den kleinen und mittleren Unternehmen, entstehen die meisten Arbeitsplätze.
 
 Wir brauchen die richtigen Rahmenbedingungen für mutige Gründerinnen und Gründer, die sich trauen, mit ihrer Geschäftsidee etwas zu riskieren! Genossinnen und Genossen, lasst mich an dieser Stelle etwas hinzufügen. Bei den Neugründungen können wir auch von den Vereinigten Staaten von Amerika lernen. Wir brauchen mehr Mut. In den Vereinigten Staaten gibt es ein klares Prinzip, das das Silicon Valley stark gemacht hat. Das ist die Überlegung: Idee, Versuch, Erfolg – super. Idee, Erfolg, Misserfolg – nächste Idee.
 
 Wie ist es bei uns? Idee, Versuch, Erfolg – super. Idee, Erfolg, Misserfolg – dann bist du in der Regel für den Rest des Lebens erledigt.
 
 Man muss nicht immer, aber man kann manchmal von den Vereinigten Staaten von Amerika lernen, damit wir mehr Risikobereitschaft haben, damit wir junge Männer und Frauen zum Risiko ermutigen. Dabei müssen wir ihnen helfen. Das ist der Kulturwandel, den wir brauchen.
 
 Wir handeln entschlossen! Wir handeln jetzt! Wir investieren in unser Land! Deshalb ist unser Steuerkonzept ein Finanzkonzept mit den Finanzvolumina, die wir brauchen. Wir setzen nicht wie die Union auf Durchwursteln und wir kapitulieren auch nicht bei jedem Einwand.
 
 Wir wollen, dass auch die junge Generation, für die Johanna Uekermann eben hier gesprochen hat, die gleichen Chancen auf ein Leben in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand hat wie die Generationen vor ihr!
 
 Genossinnen und Genossen, ich will das in aller Klarheit sagen: Wer heute nicht investiert, wer heute nicht daran denkt, dass wir nur dann leistungsfähig und stark bleiben, sondern wer die Milliardenüberschüsse, die wir zur Verfügung haben, als Steuergeschenke für Superreiche verteilen will, der hat sicher alles im Sinn, aber keine Gerechtigkeit. Vor allem hat er eines nicht im Blick: Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass die nächste Generation sich auf die handelnde Generation verlassen können muss. Ich will, dass unsere Kinder und deren Kinder wissen: Das Wichtigste für uns ist, dass sie eine gute Zukunft haben. Das ist unsere Pflicht.
 Die zweite große Herausforderung unserer Zeit ist es, unsere Gesellschaft in einer Zeit rasanter Veränderungen zusammenzuhalten, Sicherheit im Wandel zu schaffen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Auch hier ist ein Epochenwechsel spürbar für uns alle. Die Idee unseres Sozialstaats ist die Verbindung von bürgerlichen Freiheitsrechten mit sozialen Bürgerrechten. Die Bürgerinnen und Bürger können darauf vertrauen, dass der Staat sicherstellt, dass sie ihr Leben frei gestalten können und dass es im Land gerecht zugeht.
 
 Freiheit und Gerechtigkeit sind für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten untrennbar miteinander verbunden. Sie sind die Bedingungen für den gesellschaftlichen Fortschritt, den unser Land jetzt so dringend braucht. Aber, Genossinnen und Genossen, dieser Fortschritt braucht Vertrauen!
 
 Vertrauen darin, dass Leistung mehr zählt als Herkunft!
 Vertrauen darin, dass die Perspektive unserer Kinder nicht vom Portemonnaie und den Beziehungen ihrer Eltern abhängt. Übrigens auch nicht von der Wohnadresse beim Vorstellungsgespräch.
 Vertrauen darin, dass die großen Lebensrisiken Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit verlässlich abgesichert werden! Dass es eine Gesundheitsversorgung gibt, die die Menschen gleich behandelt und nicht der eine Monate auf einen Arzttermin warten muss, während der andere, nur weil er anders versichert ist, sofort drankommt. Diese Ungerechtigkeit, die werden wir durch ein neues System ersetzen.
 Vertrauen darin, dass Frauen die gleichen Chancen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt haben wie Männer.
 Vertrauen darin, dass es gleichwertige Lebenschancen gibt in der Stadt und auf dem Land.
 Vertrauen darin, dass kulturelle Vielfalt eine Stärke ist und kein Risiko.
 
 Dieses Vertrauen, Genossinnen und Genossen, ist notwendig, um unser Land solidarisch zusammenzuhalten.
 
 Wir kämpfen für dieses Vertrauen. Wir werben um dieses Vertrauen. Aber wer das Vertrauen erwerben will, der muss auch zur Kenntnis nehmen, dass es verloren gegangen ist. Häufig ist es verloren gegangen, weil die Menschen spüren, dass in dieser Gesellschaft der Respekt vor der individuellen Lebensleistung der Menschen fehlt. Vertrauen in eine Gesellschaft, Vertrauen in einen Staat hat eine Grundvoraussetzung: dass man sich zugehörig fühlt, dass man sich mitgenommen fühlt, dass man sich sicher sein kann, in der Gemeinschaft aufgehoben zu sein.
 
 Das beschreibt, was Menschen oft nicht mehr empfinden: nämlich Respekt. Mir sind unzählige Menschen in den letzten Monaten begegnet, denen es gut geht, die sagen, ich komme durch, irgendwie läuft es. Aber für mein Schicksal und das meiner Kinder interessiert sich doch keiner. Ihr kennt doch alle die Diskussion im Freundeskreis, im Betrieb, im Verein, dieser Mangel an Respekt, der das Vertrauen zerstört. Die Chirurgin, die Herzen verpflanzt und Leben rettet, bekommt unseren Respekt, unsere Bewunderung und unsere Anerkennung.
 
 Aber der Busfahrer, der morgens unsere Kinder zur Schule fährt, dem vielleicht 80 Kinder in dem Bus anvertraut sind, der schützt auch Leben und hat den Respekt der Gesellschaft genauso verdient.
 Aber er muss spüren, dass er zu dieser Gesellschaft gehört und dass er für seine Lebensleistung respektiert wird. Dann, wenn der Respekt wieder im Mittelpunkt steht, gewinnen wir auch das Vertrauen zurück. Ich sage: Für uns als sozialdemokratische Partei ist das wichtiger als für alle anderen Parteien. Die Menschen müssen wissen, sie können uns vertrauen, weil wir die Partei sind, die ihre Lebensleistung respektiert und sie in den Mittelpunkt unserer Politik stellt.
 
 Aber genau dieses Modell, Genossinnen und Genossen, dieses Modell dieses Staates, in dem Respekt und gegenseitiges Vertrauen herrscht, der Staat, den unser Grundgesetz in Artikel 20 als einen sozialen und demokratischen Rechtsstaat beschreibt, wird in diesen Tagen immer häufiger angegriffen.
 
 Dieses Vertrauen ist brüchig geworden, übrigens nicht nur in unserem Land. In vielen Ländern der Europäischen Union und auch in Übersee erleben wir diese Entwicklung. Das nutzen sie aus, die Populisten dieser Erde. In Italien mit Herrn Salvini an der Spitze, die Le Pens, dieses millionenschwere Familienunternehmen der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus, in Österreich diese Erben des Herrn Haider, angeführt von Herrn Strache und dieser unsägliche Herr Wilders in den Niederlanden. Sie wollen ein autokratisches, ein undemokratisches System.
 
 Wenn wir schon von Autokraten reden, dann lasst mich noch einmal Can Dündar nicht nur hier begrüßen, sondern auch die Vertreterinnen und Vertreter unserer Schwesterparteien CHP und HDP.
 Lasst mich sie an dieser Stelle aber nicht nur begrüßen, sondern ihnen ein Zeichen der Solidarität geben und ihnen sagen: Wir sind an eurer Seite. Ihr repräsentiert die demokratische Türkei, die wir wollen.
 Es ist ein Skandal, dass tausende Oppositionelle in der Türkei verfolgt und angegriffen werden, und es ist ein Skandal, dass immer noch unzählige Journalistinnen und Journalisten in türkischen Gefängnissen sitzen.
 Deshalb sage ich hier in Dortmund auf unserem Parteitag an die Adresse des türkischen Staatspräsidenten, der für sich in unserem Land alle Freiheitsrechte in Anspruch nimmt, die er in seinem eigenen Land seinen eigenen Landsleuten verweigert, zwei Sachen, liebe Genossinnen und Genossen. Diesem Staatspräsidenten kann man erstens nur sagen und zurufen: Kehr zurück auf den Weg der Demokratie, auf dem du mal warst! Und Zweitens – ganz klar und aktuell, auch als Zeichen der Solidarität auf diesem Parteitag mit unterdrückten Journalistinnen und Journalisten, die unter der Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Türkei leiden: Herr Erdogan, geben Sie diese Leute frei – und wenn möglich, noch heute!
 
 Liebe Genossinnen und Genossen, aber auch wir haben sie bei uns, diese Vertreter der sogenannten illiberalen Demokratie. Die leben auch in unserem Land und sind auch bei uns aktiv. Man konnte jetzt anhand eines Online-Stammtisches der AfD in Sachsen-Anhalt lesen, wie diese Leute so diskutieren. Das ist interessant; das muss man sich anschauen. Da ist die Rede von „Deutschland den Deutschen“, von einer „notwendigen Machtübernahme“. Da wird schwadroniert von „volksfeindlichen Medien“ und der „Ausweitung der Außengrenzen“.
 
 Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass die AfD in Wirklichkeit eine NPD light ist, dann ist er hiermit erbracht worden.
 
 Diese Leute gehören nicht zu unserem modernen Deutschland. Zu unserem modernen, aufgeklärten Deutschland gehören andere Leute, auf die wir stolz sein können und stolz sein müssen, z. B. Lamya Kaddor, eine mutige Muslima, einer der großen Denker unseres Landes in unserer Zeit, Navid Kermani, der tolle Regisseur Fatih Akin, mein Freund Ranga Yogeshwar oder auch die mutige Journalistin Dunja Hayali oder auch Jérȏme Boateng, ein deutscher Nationalspieler, der für uns die Weltmeisterschaft gewonnen hat.
 
 Sie gehören zu unserem modernen und aufgeklärten Deutschland.
 
 Und da geht ein AfD-Spitzenkandidat hin und wagt es, diesen deutschen Weltmeister im Fußball, Jérȏme Boateng, anzugreifen, mit der Bemerkung, niemand wolle Herrn Boateng zum Nachbar haben! Nein, Leute, diese Partei gehört nicht zu Deutschland.
 
 Lasst uns alle Kräfte mobilisieren und etwas Historisches schaffen; das ist nämlich zu schaffen. Übrigens: Wenn man mobilisiert und nicht politisch demobilisiert, dann kann man etwas schaffen: dass diese Leute nicht dem nächsten Deutschen Bundestag angehören. Das ist doch ein Ziel, für das man kämpfen kann!
 
 Liebe Genossinnen und Genossen, ich trete mit meiner Partei und mit unserem Parteiprogramm für Leistungsgerechtigkeit an, die würdigt, was Millionen Menschen Tag für Tag auf die Beine stellen. Ich meine die Menschen, die in unserem Land hart arbeiten und sich an die Regeln unseres Landes halten, die Leistungsträgerinnen und Leistungsträger, die sich reinhängen, im Beruf und auch im Ehrenamt und in der Familie, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Das sind besonders oft die Frauen, die dafür sorgen, dass der Laden läuft.
 
 Und trotzdem erleben wir immer noch, wie Frauen – auch systemisch – benachteiligt werden.
 
 Manuela Schwesig hat in ihrer Begrüßungsrede darauf hingewiesen, dass das im Koalitionsvertrag vereinbarte Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit und der Rechtsanspruch darauf von uns nicht durchgesetzt werden konnten, weil die Regierungsparteien CDU und CSU – an der Spitze die Bundeskanzlerin und Herr Seehofer – es blockiert haben.
 
 Wir erleben immer noch – und das, Genossinnen und Genossen, ist für mich einer der größten Skandale, eine der größten Diskriminierungen, die es überhaupt gibt –, dass Frauen für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt werden als Männer.
 
 Deshalb eine klare Ansage: Wir brauchen die gleiche Bezahlung für Frauen und Männer für die gleiche Arbeit. Ich sage euch: Wir werden das durchsetzen. Diese Diskriminierung darf es nicht mehr geben.
 Das gilt auch für die Auswüchse auf dem Arbeitsmarkt, die durch die Flut befristeter Arbeitsverträge entstanden sind. Wer sich von einer Vertragsverlängerung zur nächsten hangelt, der kann weder berufliche noch familiäre Zukunft planen. Wir müssen deshalb alles dafür tun, dass die unbefristete Arbeit – tariflich bezahlt, mit guten Arbeitsbedingungen – wieder zum Normalfall wird.
 
 Denn anders können wir keine sichere Zukunft für die nächste Generation aufbauen.
 
 Die Leistungsträger, von denen ich spreche, sind besonders oft die Menschen in der Mitte des Lebens, Frauen und Männer zwischen Mitte 30 und Mitte 50. Diese mittlere Generation ist unglaublich gefordert. Sie müssen in unserer Gesellschaft unglaublich viel gleichzeitig schultern: „Sei erfolgreich im Beruf! Setze ein paar Kinder in die Welt! Kümmere Dich, bitte, sehr sorgfältig um deren Erziehung! Pfleg zugleich noch deine alten Eltern! Baue möglichst ein Haus und engagiere dich, bitteschön, in deiner Freizeit ehrenamtlich! Und nicht vergessen: Dreimal in der Woche zum Sport!“
 
 Das ist für viele der Lebensalltag, und sie stoßen da häufig an ihre Grenzen.
 
 Oft bleibt die Lebensqualität auf der Strecke, weil man nur noch funktioniert. Diese Menschen werden wir entlasten. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.
 
 Klar ist – das will ich hier sagen: Der Staat kann nicht jede Belastung wegnehmen; das können wir auch nicht versprechen. Wir können auch nicht jeden Stein aus dem Weg räumen – natürlich nicht. Kinder zu erziehen ist und bleibt eine der größten Herausforderungen; das wissen wir alle. Die schlaflosen Nächte, die Sorgen um die Kinder und die Verantwortung können wir den Eltern nicht abnehmen.
 
 Aber es ist Zeit, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Familien entlastet werden und sie die Unterstützung bekommen, die sie verdienen.
 
 Deshalb wollen wir die Gebührenfreiheit vom ersten Lebensjahr bis zum Hochschulabschluss, wollen wir den Weg von der Kita bis zur Universität gebührenfrei stellen.
 
 Lasst mich eins hinzufügen: Diese Gebührenfreiheit soll nicht nur vom ersten Lebensjahr, von der Kita bis zum Hochschulabschluss gelten, sondern auch für den Meisterbrief.
 
 Das gehört auch dazu – das will ich hier ausdrücklich sagen –, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Die Gesellen, die anschließend den Meisterbrief erwerben, die ihre Meisterprüfung machen, die unser duales Berufsausbildungssystem durchlaufen – übrigens eines, um das uns die ganze Welt beneidet –, sind – das zu sagen ist auch eine Frage des Respekts – auch nicht schlechter als Akademikerinnen und Akademiker. Lasst uns das auch klar sagen!
 
 Deshalb gehört die Gebührenfreiheit inklusive Meisterbrief zu unserem Programm.
 
 Und weil wir die Familien entlasten wollen, werden wir den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter schaffen. Wir werden die Familienzeit einführen, damit Familien wieder mehr gemeinsame Zeit haben, damit auch die Pflege von Angehörigen möglich ist.
 
 Deshalb treten wir an für ein Steuersystem, durch das die kleinen und mittleren Einkommen entlastet werden. Mit unserem Steuerkonzept behalten wir die Spielräume für die notwendigen Zukunftsinvestitionen, die ich beschrieben habe, schaffen aber gleichzeitig mehr Gerechtigkeit im System, weil starke Schultern mehr tragen müssen. Und jetzt sage ich mal was, weil ich auch Zeitungskommentare lese: Na klar ist das auch eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit, dass starke Schultern mehr tragen müssen als schwache!
 
 Und zu dieser Gerechtigkeit gehört für mich genauso, dass die Krankenversicherungsbeiträge wieder zu gleichen Anteilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gezahlt werden – fifty/fifty!
 Das sind Maßnahmen für Gerechtigkeit, die unmittelbar im Alltag bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen.
 
 Liebe Gäste! Liebe Genossinnen und Genossen! Familie – die wir stärken wollen –, das ist nicht nur: Vater, Mutter, Kind. Familie ist da, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen.
 Dazu gehören alle Lebensformen, für die Menschen sich entscheiden. Dazu gehören auch homosexuelle Paare.
 
 Deshalb eine klare Ansage an alle: Wir werden die Ehe für alle in der nächsten Regierung durchsetzen. Ich werde keinen Koalitionsvertrag unterschreiben, in dem die Ehe für alle nicht verankert ist.
 
 Wenn ich von Gerechtigkeit im Alltag rede, dann meine ich auch das Thema Sicherheit – soziale Sicherheit, aber, liebe Genossinnen und Genossen, ganz konkret auch die Sicherheit vor Kriminalität. Die Sicherheit vor Kriminalität ist ein ursozialdemokratisches Thema. Denn Sicherheit ist ein Grundversprechen des demokratischen Rechtsstaates – sie darf kein Luxusgut sein, das sich reiche Leute kaufen können. Sicherheit muss es für alle Bürgerinnen und Bürger geben. Deshalb ist sie so wichtig für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.
 
 Sichere und lebendige Städte und Gemeinden bedeuten doch Heimat und Lebensqualität. Klar sind Einbruchsserien und Autodiebstähle in den „Speckgürteln“ der Großstädte und in den Grenzregionen – ich lebe selbst in einer solchen – Dinge, die uns alle angehen und die uns Sorgen machen müssen. Genauso, wie Gewalt in sogenannten schwierigen Stadtvierteln und öffentlichen Verkehrsmitteln nicht hinnehmbar ist.
 
 Aber ich will euch noch einen Grund nennen, warum Sicherheitspolitik auch ein grundsätzliches sozialdemokratisches Anliegen ist, wenn wir über Respekt und Solidarität reden: weil wir den Opfern der Kriminalität Respekt und Solidarität schulden.
 
 Sehr oft stehen die Täter im Mittelpunkt. Ja, ich will, dass die Täter rechtsstaatlich behandelt werden. Aber ich will auch, dass die Opfer nicht vergessen werden und die Solidarität bekommen, die sie in dieser Gesellschaft brauchen. Beide Dinge gehören zusammen!
 
 Wenn ich sage, dass die Menschen darauf vertrauen können müssen, dass der Staat für ihre Sicherheit sorgt, dann heißt das nicht allein, dass wir hier und da im Strafgesetzbuch die Strafverschärfungsschrauben anzuziehen. Die Konservativen sind immer schnell dabei, neue und schärfere Gesetze zu fordern. Das kommt automatisch.
 
 Nur: Konkrete Sicherheit schafft man nicht mit der Druckerschwärze im Bundesgesetzblatt.
 
 Liebe Genossinnen und Genossen, konkrete Sicherheit schafft man mit klaren Aussagen. Deshalb: Wenn es um die Strafgesetze in unserem Lande geht, will ich auch hier ziemlich klar sagen:
 Wir müssen all denen, die es nicht kapieren wollen, weil sie unseren Rechtsstaat nicht akzeptieren und ihn unterminieren wollen, eines sagen: Das hier ist eine verdammt wehrhafte, selbstbewusste Demokratie! Das gilt für alte Nazis, das gilt für neue Nazis, das gilt für islamistische Terroristen, für alle andere Extremisten dieser Art. Wer glaubt, unter dem Schutzmantel welcher politischen Überzeugung oder Religiösität auch immer die Grundrechte infrage stellen zu können, der hat in unserem Land in der SPD einen entschiedenen Gegner. Wir sind eine wehrhafte Demokratie!
 
 Aber dafür brauchen wir auch eine starke, eine sichtbare und eine bürgernahe Polizei. Lasst mich deshalb an dieser Stelle einen Dank sagen an die Beamtinnen und Beamten, die unseren Parteitag hier schützen und die mit uns gemeinsam hoffen, dass nichts Schlimmes passiert.
 
 Ich bin der Sohn eines Polizeibeamten. Ich will das an die Adresse der Beamtinnen und Beamten der Polizei auch im Namen unserer Partei, aber auch ganz persönlich in meinem Namen sagen: Ich weiß wie das ist, was es für Familien bedeutet, im Schichtdienst arbeiten zu müssen. Die Männer und Frauen bei der Polizei schieben Millionen Überstunden vor sich her.
 
 Deshalb: Es ist falsch, Polizeistellen abzubauen. Wir brauchen mehr Polizistinnen und Polizisten. Das haben wir in unserem Programm auch gesagt. Aber an die Adresse der Beamtinnen und Beamten, der Polizistinnen und Polizisten will ich eines sagen: Wir wissen, was ihr leistet. Wir wissen, wie schwierig es oft ist zu ertragen, physisch angegriffen zu werden, noch häufiger verbal angegriffen zu werden, die Dinge runterschlucken zu müssen, und wir wissen um die psychische Belastung, die daraus häufig entsteht. Ja, wir wissen um den schweren Dienst, den die Männer und Frauen bei der Polizei leisten. Deshalb gilt unsere Solidarität den Polizistinnen und Polizisten in unserem Land, die mit ihrem Dienst auch unsere Demokratie sehr häufig schützen. Dafür ein herzliches Dankeschön auf diesem Parteitag!
 
 Wenn wir, Genossinnen und Genossen, von Gerechtigkeit reden, dann sprechen wir auch über den Respekt vor der älteren Generation, die unser Land aufgebaut hat und die dadurch unseren Wohlstand ermöglicht hat. Deshalb ist die Frage, wie wir mit der Rente umgehen, so zentral für mich. Deshalb habe ich darum gebeten, dass wir uns sehr viel Zeit nehmen und ein seriöses Konzept erarbeiten; denn Menschen müssen sich auf die langfristig angelegte Rente verlassen können, sonst funktioniert das System nicht. Wir haben deshalb mit der doppelten Haltelinie ein gut durchgerechnetes Konzept vorgelegt. Wir stabilisieren das heutige Rentenniveau und sichern zugleich, dass die Jungen nicht über Gebühr belastet werden.
 
 Für uns ist auch eines klar: Beim Renteneintrittsalter belassen wir es bei der jetzigen Regelung. Die Rente mit 70, wie die Union sie fordert, die wird es mit uns nicht geben.
 
 Aber warum weigert sich die Union, Genossinnen und Genossen, ein Rentenkonzept vorzulegen? Es liegt auf der Hand: Nach der Wahl würde innerhalb der Union ein Streit ausbrechen, wie hoch man beim Renteneintrittsalter gehen kann: Bis 70? Vielleicht noch ein paar Jährchen mehr? Und ein Streit darüber, wie weit man das Rentenniveau absenkt: Bis 43 Prozent? Vielleicht noch ein paar Prozentchen weniger?
 
 Ich höre tatsächlich von der Union, man müsse die Rente „aus dem Wahlkampf raushalten.“ Die Rentendebatte habe nichts im Wahlkampf zu suchen. Nein, Kollegen! Das lassen wir euch nicht durchgehen! Im Gegenteil: Die Rente ist eine der zentralen Gerechtigkeitsfragen!
 
 Wir wollen einen neuen Generationenvertrag diskutieren. Das heißt doch im Klartext: Wir müssen uns um das Gleichgewicht zwischen den Generationen kümmern, damit ein Altern in Würde auf der einen Seite möglich ist, aber die junge Generation – ich habe deren Belastungen beschrieben – auf der anderen Seite nicht in die Knie gezwungen wird. Das muss man doch als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachten und über den besten Weg dahin diskutieren. Wenn dann eine Partei hingeht und sagt: Damit haben wir nichts zu tun! Das diskutieren wir nicht im Wahlkampf. Dann ist das die Arroganz der Macht, und nichts anderes, Genossinnen und Genossen.
 
 Wir legen ein Konzept vor. Das kennt jeder. Wer die Katze im Sack kaufen will, kann die CDU wählen. Wer eine sichere und stabile Rente will, der macht am besten sein Kreuz bei uns!
 
 Genossinnen und Genossen, mancher aus der heutigen Rentnergeneration kann sich noch erinnern an die Nachkriegsjahre, als Europa am Boden lag, zerstört durch einen fanatischen Krieg und Kriegswillen. Es war die europäische Einigung, die unseren Kontinent wieder aufgerichtet hat. Deshalb ist die dritte Herausforderung, über die ich rede, nichts weniger als eine Schicksalsfrage. Die Frage, wie wir das demokratische Europa stärken, wie wir den Frieden in einer Welt sichern, in der der Frieden bedroht ist.
 
 Wir leben nicht mehr in Zeiten des Kalten Krieges. Es gibt nicht mehr die zwei Blöcke; die bipolare Zeit ist vorbei. Weder den Mördern des „Islamischen Staats“ noch dem nordkoreanischen Diktator oder den global vernetzten Cyber-Terroristen kann man mit der nuklearen Abschreckung beikommen.
 Zugleich ist aber auch offensichtlich: Die Ursachen von Konflikten und die Herausforderungen wie Armut, wie Dürre, wie Flucht und Vertreibung, wie Epidemien und Hungersnöten werden wir ganz sicher nicht durch mehr Militär lösen können.
 
 Nur mehr wirtschaftliche, mehr soziale und politische Entwicklung der betroffenen Regionen schaffen Stabilität und Sicherheit. Die Welt braucht nicht mehr Waffen, sie braucht mehr Gerechtigkeit und sie braucht mehr Entwicklungschancen! Dafür stehen wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.
 
 Trotzdem sind wir Zeitzeugen einer globalen Aufrüstungsspirale. Gigantische 1,7 Billionen Dollar sind allein 2016 weltweit für Militärausgaben aufgewendet worden. Leute, das sind 1 700 Milliarden Dollar! Doch selbst diese Summe reicht manchen nicht: Der amerikanische Präsident will noch mehr Geld für die Rüstung ausgeben, fordert noch mehr. Er setzt sich dafür ein, dass Deutschland innerhalb weniger Jahre seinen Wehretat auf fast 70 Milliarden Euro verdoppelt! Das Resultat wäre eine hochgerüstete Militärmacht Deutschland, ein Deutschland, umgeben von Freunden, das sich mitten in Europa bis an die Zähne bewaffnet. Ich frage euch: Wollen wir das? Wir wissen doch aus unserer Geschichte: Mehr Sicherheit gibt es nicht mit mehr Waffen.
 
 Eins will ich hier klarstellen: Wir müssen die Bundeswehr besser ausstatten, als das heute der Fall ist; da gibt es überhaupt keinen Zweifel.
 
 Zwölf Jahre schwarze Politik haben kontinuierlich Substanz bei der Bundeswehr abgebaut. In jedem Jahr bekommt die Bundeswehr neue Mandate. Aber von Herrn von und zu Guttenberg bis zu Frau von der Leyen war es immer das gleiche Spiel: Es kam ein „von“ dazu, aber bei der Bundeswehr wurde gekürzt.
 
 Deshalb sage ich: Wir müssen die Arbeit der Bundeswehr ernst nehmen. Wir müssen den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Respekt zollen. Respekt zollen heißt übrigens nicht, sie unter einen pauschalisierten Generalverdacht zu stellen. Auch davor müssen wir die Männer und Frauen bei der Bundeswehr schützen.
 
 Und wir müssen den Etat der Bundeswehr um mehrere Milliarden aufstocken. Aber wir müssen die Bundeswehr nicht zur größten Armee des Kontinents aufrüsten.
 
 Frau Merkel sagt dazu Folgendes: „Die Zeit, in der wir uns auf andere verlassen konnten, ist ein Stück vorbei.“ Ich habe den Satz gehört, genau wie ihr auch. Ich habe ihn noch mal auf mich wirken lassen; er hat ja eine weltweite Resonanz gefunden: „Die Zeit, in der wir uns auf andere verlassen konnten, ist ein Stück vorbei.“ Wie groß ist es denn, das Stück? Wer sind denn eigentlich die anderen? Wie unkonkret darf es denn, bitte schön, sein?
 Man hätte auch sagen können: Ob wir uns noch auf die Vereinigten Staaten von Amerika verlassen können, das wissen wir nicht. Aber dass wir uns auf einen irrlichternden Präsidenten Donald Trump nicht verlassen können, das wissen wir sehr wohl und nicht erst seit dem letzten NATO-Gipfel oder seit dem G7-Gipfel in Taormina.
 
 Und dass wir nicht bereit sind, uns der Trump’schen Aufrüstungslogik zu unterwerfen, sondern dass wir uns auf uns selbst besinnen müssen. Ja, das stimmt zu 100 Prozent. Aber wenn das zu 100 Prozent stimmt, warum muss man dann sagen: „Die Zeit, in der wir uns auf andere verlassen konnten, ist ein Stück vorbei“? Da kann man doch auch konkret werden.
 
 Zum Beispiel so konkret wie Gerhard Schröder, als er einem amerikanischen Präsidenten – der im Verhältnis zum heutigen ja schon fast ein liberaler Mann ist – als dieser einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg befahl, mit klaren deutschen Hauptsätzen sagte: „Mit uns nicht!“ Mit dieser Haltung hat er ein Ruhmesblatt in der Geschichte Deutschlands beschrieben.
 
 Ich will hinzufügen, dass die damalige Oppositionsführerin in der „Washington Post“ einen Artikel veröffentlichte, in dem es hieß: „Herr Schröder spricht nicht für alle Deutschen.“
 
 Genossinnen und Genossen, zu einem friedlichen Europa gehört auch das demokratische, das aufgeklärte, das tolerante Europa, das Europa, für das Helmut Kohl und François Mitterrand stritten, das Europa des Maastrichter Vertrages, das die neue Ordnung unseres Kontinents nach der Herstellung der deutschen Einheit schuf und das geleitet war von dem Gedanken, den Thomas Mann so wunderbar beschrieben hatte und den Helmut Kohl zu seinem Leitmotiv gemacht hatte: Wir wollen ein europäisches Deutschland und kein germanisiertes Europa. Das ist die große Leistung von Helmut Kohl, dass er nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands dieses Deutschland einbettete in das integrierte, vertiefte, über die Grenzen hinweg zusammenarbeitende Europa.
 
 Aber dieses Europa hat neue Probleme. Es hat heute in seinem Inneren Regierungen, die Toleranz und Weltoffenheit infrage stellen. Zum Beispiel die Regierung in Budapest von Viktor Orbán, dem Schöpfer des Begriffes der „illiberalen Demokratie“ – was auch immer das heißen mag. Oder die Regierung in Warschau, die als erste Amtshandlung die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts infrage stellte und die Medienfreiheit angriff.
 Ich habe seit Jahren, sowohl als Präsident des Europäischen Parlaments als auch als Vorsitzender unserer Partei, diese Entwicklungen beklagt. Ich habe sie in unzähligen europäischen Räten angesprochen und dort von der Regierungschefin der Bundesrepublik Deutschland nie Unterstützung bekommen. Geleitet von ihrem Grundgedanken, der „marktkonformen Demokratie“, waren Angela Merkel und Wolfgang Schäuble immer sehr konsequent, wenn es darum ging, ihre harten ökonomischen Forderungen durchzudrücken, die übrigens häufig zulasten der Ärmsten der Armen in anderen Ländern gingen.
 
 Aber wenn es um die Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im Inneren der Europäischen Union ging, hörte man von ihnen wenig bis nichts.
 
 Es ist viel Vertrauen in Europa verspielt worden in den letzten Jahren; das ist eindeutig. Wer glaubt denn heute noch, dass unter dieser Führung ein Richtungswechsel in Europa stattfinden kann? Der neue französische Staatspräsident hat vor wenigen Tagen klar gesagt: Die Europäische Union ist kein Supermarkt, in dem jeder kriegt, was er will. Macron hat gesagt: Wir haben gemeinsame Werte, an die sich alle zu halten haben. Der Mann ist zwei Monate im Amt. In Deutschland wird seit zwölf Jahren an der Regierungsspitze zu allen diesen Themen geschwiegen.
 
 Im Gegenteil: Bei der Regierungspartei CSU ist der erwähnte Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident als Ehrengast bei der Klausurtagung empfangen worden. Niemand, will ich euch sagen, hat mehr gegen die deutsche Flüchtlingspolitik gekoffert. „Wir ziehen einen Zaun um unser Land“, hat Orbán gesagt. Es wundert mich aber auch nicht, dass dieser Viktor Orbán der Ehrengast der CSU ist. Denn der Vorsitzende der CSU hat die Flüchtlingspolitik unseres Landes als „Herrschaft des Unrechts“ bezeichnet. CDU und CSU treffen sich, nachdem sie dreieinhalb Jahre nichts gemeinsam hatten, in einem Bierzelt zu einem sogenannten Versöhnungsgipfel. Donnerwetter! Ein Gipfel war es, das muss ich sagen – es war der Gipfel der Heuchelei!
 
 Deshalb sollte jedem klar sein bei der Bundestagswahl: Wer Angela Merkel wählt, kriegt am Ende Horst Seehofer.
 
 Liebe Genossinnen und Genossen, ich habe schon sehr häufig gesagt, dass es so in Europa nicht weitergehen kann. Wenn einige Staaten, die bei der Finanzierung der Agrarfonds oder der Mittel für die Strukturförderung sagen: „Solidarität ja, bitte“, die bei Sanktionen gegen Russland, die sie fordern, weil sie sich bedroht fühlen, Solidarität einfordern und sagen: „Sanktionen ja, bitte“, aber bei der Solidarität mit Menschen in der Flüchtlingspolitik oder einem klaren Schutz und Bekenntnis unserer Grundwerte von Toleranz, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sagen: „Nein, danke“, dann muss man diesen Staaten klar sagen, was ich seit Jahren tue und was Gott sei Dank jetzt auch Emmanuel Macron gesagt hat: Solidarität ist keine Einbahnstraße!
 
 Im Gegensatz zu Frau Merkel und Herrn Seehofer sagen wir das in klaren deutschen Sätzen.
 
 Wir stehen auf der Seite des Europas, das demokratisch, tolerant und weltoffen ist, das den Wert der Solidarität und das Bekenntnis zur Demokratie in den Mittelpunkt stellt. In diesem Sinne wollen wir Europa reformieren. Zu einem Europa, das eben nicht die marktkonforme Demokratie ist, sondern das die Demokratiengemeinschaft ist, die einen Markt formt, in dessen Mittelpunkt die Würde des Menschen steht. Das, Genossinnen und Genossen, muss das Europa sein, das wir anstreben. Und für dieses Europa wollen wir kämpfen.
 
 Ich habe, liebe Gäste und liebe Genossinnen und Genossen, über die großen Fragen unserer Zeit gesprochen: die wirtschaftliche Zukunft, die Gerechtigkeit, Europa und den Frieden.
 Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben das richtige Programm, und wir haben eine klare Haltung zu den großen Herausforderungen. Wir wissen, wofür wir stehen. Wofür stehen die anderen?
 Die SPD steht für eine moderne Politik, die Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Erfolg verbindet. CDU und CSU, wenn sie denn überhaupt irgendetwas dazu sagen, spielen in der Regel diese Dinge gegeneinander aus.
 Die SPD steht für eine Politik, die den Zusammenhalt gerade in Zeiten des Wandels sichert, für sichere Renten, für bessere Bildungschancen und für Lohngerechtigkeit. CDU und CSU glauben schweigend, dass es in diesen Bereichen keine Veränderungen geben soll.
 
 Die SPD steht für eine Politik, die Mütter und Väter dabei unterstützt, partnerschaftlich Beruf und Familie zu vereinbaren. Die CDU und die CSU verharren in ihren alten Rollenbildern.
 Die SPD setzt auf Vielfalt, Toleranz, Kultur und Solidarität. CDU und CSU treiben immer und immer wieder einen Keil in die Gesellschaft, entweder mit ihrer Angstmacherei oder mit ihrem Leitkulturgefasel.
 Die SPD weiß, dass die Menschen den Staat nicht vor ihrer Nase haben wollen, aber an ihrer Seite, wenn es darauf ankommt. Die SPD setzt sich in unsicheren Zeiten für friedliche Konfliktlösung und Abrüstung ein. Die CDU und die CSU setzen auf Aufrüstung.
 
 Genossinnen und Genossen, Deutschland steht vor einer Richtungsentscheidung. Ja, wir können uns entscheiden, in welchem Land, in welcher Gesellschaft wir leben wollen: Wir wollen weiter in einem freien, einem solidarischen und einem vielfältigen Land leben, das in einem starken, in einem erneuerten Europa eingebettet ist. Ein Land, das an sich glaubt und das daran glaubt, dass das Beste noch vor uns liegt. Ein zuversichtliches, ein offenes, ein optimistisches Land, für das die Zukunft keine Drohung, sondern ein Versprechen ist.
 
 Ein Land, das seinen Chancen und seiner eigenen Kraft vertraut. Ein Land, das bereit ist für neue Wege und einen neuen Aufbruch. Ein Land des Mutes, des Fortschritts und der Solidarität.
 Stellen wir die Weichen auf Zukunft und fahren wir fort, unser Land zu reformieren? Stellen wir die Weichen auf Zukunft, oder fahren wir weiter auf Sicht? Wir sagen, es ist Zeit. Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit. Es ist Zeit für eine innovative Zukunft. Es ist Zeit für ein neues Europa.
 
 Unsere Genossinnen und Genossen, die 1925 auf dem Parteitag in Heidelberg die Vereinigten Staaten von Europa forderten, waren tief geprägt vom Ersten Weltkrieg, und sie taten das acht Jahre vor der Machtergreifung Hitlers in einer Welt des völligen Umbruchs.
 
 Ich weiß nicht, vielleicht wäre uns und ganz Europa der tiefe Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs erspart geblieben, wenn sich dieser Geist durchgesetzt hätte, der damals die Vereinigten Staaten von Europa forderte.
 Wir leben wieder in einer Zeit des Umbruchs, in der die Werte, für die wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten streiten, die Werte Europas, die Werte der aufgeklärten, der toleranten Gesellschaft, herausgefordert sind, wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
 
 Wir leben in Zeiten eines Epochenwandels, in denen Europa die großen Aufgaben des 21. Jahrhunderts anpacken muss. Europa muss diese Aufgaben anpacken:
 Die Bewältigung des Klimawandels als Pflicht der heutigen Generation gegenüber den nächsten Generationen.
 Den Aufbruch in ein digitales Zeitalter, in dem wir ein europäisches Google und ein europäisches Facebook schaffen. Der kommende Bill Gates muss ein Europäer sein. Und die Grundrechte, die wir uns erstritten haben, müssen gewahrt bleiben durch ein starkes Europa.
 
 Europa muss die Frage anpacken, wie wir die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den ärmsten Regionen dieser Welt gestalten. Denn nur wenn sie eine Chance bekommen, werden wir dauerhaft die Herausforderungen von Migration und Flucht bewältigen können. Durch einen fairen Handel. Auf der Grundlage von gegenseitigem Respekt.
 
 Aber vor allem durch ein europäisches Einwanderungsrecht, das wir dringend brauchen.
 
 Wir brauchen dieses Einwanderungsrecht, Genossinnen und Genossen, damit wir endlich ein System der Hoffnungslosigkeit und des Massensterbens durch ein System der Hoffnung auf einen fairen Zugang nach Europa ersetzen.
 Europa muss die Bekämpfung des internationalen Terrorismus anpacken. Dazu gehört vor allem, Prävention in allen Ländern Europas an die erste Stelle zu setzen. Aber Europa muss auch auf die Begrenzung des Waffenexports setzen, denn die Kriege werden mit unseren Waffen ausgefochten.
 
 Und diese Waffen, Genossinnen und Genossen, gelangen zu oft in die Hände von Terroristen. Aber es ist uns doch klar: Es hilft nicht, wenn ein Land aussteigt, weil viel zu häufig die Haltung dann vorhanden ist: Na, wenn die nicht liefern, haben wir ein bisschen mehr Anteile am Markt. Deshalb kann das Europa nur in Gänze tun.
 
 Dann muss es aber auch in Europa zur Aufgabe werden, auf die Sicherung des Friedens zu achten und die weltweite Abrüstung zur Aufgabe Europas zu machen. Gerhard Schröder hat in seiner Rede darauf hingewiesen. Wir stehen als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Deutschland in einer großen Tradition: Der Alternative zur simplen Aufrüstungsspirale, die uns andere einreden wollen. Der Alternative zu diesem sogenannten 2-Prozent-Ziel der Aufrüstung der Armeen der NATO-Mitgliedsstaaten zu hochgerüsteten und bewaffneten Einheiten, die doppelt so groß sein werden wie heute. Dieses 2-Prozent-Ziel ist nicht vernünftig, und wir stehen nicht in dieser Tradition. Wir stehen in der Tradition der Brandt‘schen und Schmidt‘schen Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungspolitik. Die muss Europa verfolgen.
 
 Ein Europa, das die offene, die vielfältige und die tolerante Gesellschaft schafft. In unserem Artikel 1 des Grundgesetzes ist auch die Einleitung der Grundrechtecharta der EU definiert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ja, das ist für mich und für uns alle der wichtigste Satz in unserer politischen Arbeit, dass wir alles, was wir tun, national wie europäisch, einordnen in diese Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Würde des Menschen nicht angetastet wird.
 
 Diese Idee, das ist die Idee von Europa: Durch die transnationale Demokratie und die Kooperation von Völkern und Staaten über Grenzen hinweg ein Europa zu schaffen, das die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Für diese Idee von Europa stehen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten seit über 100 Jahren.
 
 Diese Idee drückte sich im Heidelberger Programm von 1925 aus, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Die Männer und Frauen auf dem Parteitag konnten nicht wissen, was vor ihnen lag. Aber ohne zu wissen, welch dämonische Entwicklung schon bald folgen sollte, beschlossen sie: Wir wollen die Vereinigten Staaten von Europa.
 
 Jetzt leben wir wieder in einem Umbruch. Jetzt muss Europa neu gegründet werden als ein Ort der Freiheit, als ein Ort der Sicherheit, als ein Ort des Rechts, der Aufklärung und der Menschenrechte, der Abrüstung und des zivilisatorischen Fortschritts, der Umwandlung der entfesselten Kräfte der Ökonomie im digitalen Zeitalter in sozialen Fortschritt. Das ist die Aufgabe Europas und das ist die Aufgabe der Sozialdemokratie. Dafür stehen wir heute mehr denn je.
 
 Ich bin überzeugt, Genossinnen und Genossen, von dieser Idee. Dafür brauche ich keine taktischen Berater oder Spin-Doktoren. Die Idee ist mir auch nicht in Bierzelten mit Horst Seehofer gekommen. Für diese Idee habe ich mein ganzes Leben gekämpft.
 
 Für diese Idee lohnt es sich, auf die Straße zu gehen. Für diese Idee lohnt es sich, dafür zu sorgen, dass die nächste Bundesregierung eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung ist, die diese Idee verwirklicht und umsetzt
 
 Genossinnen und Genossen, für viele Ideen, die ich heute vorgetragen habe, lohnt es sich, Wahlkampf zu machen. Aber für diese Idee lohnt es sich, mit heißem Herzen zu kämpfen.
 
 Das will ich tun. Dafür brauche ich euch. Für diese Idee will ich Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.

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Autor: dts