Köln | Aktualisiert | Um 15:45 Uhr, bei strahlendem Sonnenschein startete gestern am Gelände an der Schanzenstraße die Kundegebung „Birlikte – Zusammenstehen“ mit Beiträgen von Künstlern und vielen Wortbeiträgen, darunter auch von Bundespräsident Joachim Gauck. Dessen Rede wir hier vollständig dokumentieren. Schon gegen Mittag war der Start des Festivals unklar, als sich aus Westen kommend einen Gewitterwolke dem Festivalgelände genähert hatte. Beim zweiten Song von BAP musste das Festival wegen einer Unwetterwarnung abgebrochen werden. Und das war gut so, denn es tobte ein Sturm durch Köln und NRW, der auch den gesamten Bahnverkehr zum Erliegen brachte. In Köln-Flittard kam ein Radfahrer durch einen Baum, der auf ihn stürzte ums Leben. Die Menschen auf dem Festivalgelände verließen geordnet und zügig das Gelände.

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Nach dem zweiten Song von BAP trat überraschend Moderatorin Sandra Maischberger, kurz nach 20:00 Uhr an das Mikrofon und erklärte, dass das Festival aufgrund einer Sturmwarnung abgebrochen werden muss. Zudem leitete sie das ruhige Verlassen des Geländes ein. Was wirklich überraschend gut und schnell gelang. Zuvor gab es ein Kommen und Gehen von Künstlern und Bands auf den beiden großen Bühnen unterbrochen von Redebeiträgen. Die Künstler spielten ihre größten Hits, sehr zur Freude des Publikums. Die Redebeiträge wurden alle in deutscher Sprache mit wenigen türkischen Einsprengseln gehalten. Simultan wurde in Gebärdensprache übersetzt. Auch die Kölner Politik war zahlreich vertreten. Report-k.de sprach am Rande des Festivals mit Dr. Norbert Walter-Borjans, der nicht in seiner Funktion als NRW Finanzminister, sondern als Privatmann das Birlikte Festival besuchte: „Also ich habe gestern einen Gang durch die Keupstraße gemacht und zwar nicht nur hin sondern auch zurück und wirklich mit richtig viel Zeit. Auch über das Carlswerk-Gelände und ich finde einfach, das schmückt eine Stadt wenn man so ein Stück Szene hat, die auch eine Kultur in die Stadt bringt und die dazu gehört. Aber die sich selbst auch noch einmal ein ganzes Stück selbst profiliert an solch einer Stelle zeigt. Heute muss ich sagen, so etwas Gewaltiges ist für mich echt eine richtige Absage an alles was braun ist und was hier nicht hingehört. Es ist eine unglaublich schöne Selbstvergewisserung alles Anständigen. Und das gibt es in Köln, anderswo auch, aber in Köln ganz besonders. Und da bin ich auch stolz drauf und deshalb lebe ich richtig gerne hier in dieser Stadt.

Die Besucherzahlen sind schwer zu schätzen, weil auch immer ein reges Kommen und Gehen auf dem Gelände herrschte. Realistisch betrachtet dürften es in Spitzenzeiten zwischen 20.000 und 30.000 Menschen auf dem Veranstaltungsgelände gewesen sein. Denn nur die Sektoren 1 und 2 waren wirklich voll. Viele Menschen nutzten auch die Gelegenheit und besuchten die Keupstraße. Das Gelände am Böckingpark war nahezu leer. Da ist an normalen Feiertagen oft mehr los, weil der Park auch gerne von den Anwohnern zum Grillen genutzt wird. Auch die An- und Abreise verlief problemlos, weil viele Menschen mit Fahrrädern gekommen waren. Auch am Bahnhof Mülheim war kaum etwas los, die vielen Drängelgitter wurden gar nicht gebraucht. Durch den Abbruch traten unter anderem die Bläck Fööss, Udo Lindenberg und Peter Maffay nicht mehr auf.

Das Festival wurde pünktlich eröffnet. Die AG Arsch HUh verband den Auftakt auch mit politischen Forderungen, unter anderem dass die Bürgerschaft die Behörden stärker überwachen solle, aber auch die Veedel am Rand stärker zu fördern.

Gauck ist begeistert vom Geist der Keupstraße

Bundespräsident Joachim Gauck lobte die IG Keupstraße die sich seit Jahren für ein friedliches Miteinander einsetze. Dann erzählte der Bundespräsident von der Begegnung im Friseursalon, wo die „widerwärtige Nagelbombe“ explodiert sei. Er sei gefasst gewesen auf eine Begegnung voller Schmerz, Trauer und vielleicht auch mit Frustration. Er habe die Straße dann total begeistert verlassen von dem Geist der ihm dort begegnet sei. „Von diesem, ja wir schaffen das miteinander, das ist unsere Heimat“. Es sei greifbar geworden, dass die Menschen sagen das ist ihre Heimat und sie gestalten sie zusammen. Gauck weiter: „Natürlich stehen wir heute zusammen in der Erinnerung an den Moment des Anschlages, heute vor 10. Jahren, mitten in einer deutschen Stadt, mitten unter uns. Wir fühlen mit denen die damals an Körper und Seele verwundet wurden. Mit ihren Familien mit ihren Freunden und mit den Anwohnern dieser Straße. Wir trauern auch um Menschen, die unter uns lebten. In Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund, Kassel, Heilbronn. Opfer einer beispiellosen Mordserie. Wir denken an alle denen diese Attentate auch galten, die nach dem Willen der Täter nicht mehr sicher fühlen sollten in unserem Deutschland, nicht mehr zu Hause dort, wo sie doch zu Hause sind. Wir denken heute auch daran, wie viele Betroffene sich später alleine gelassen oder sich sogar als Verdächtigte behandelt fühlen mussten. Wie viel Misstrauen damals gesät wurde.

Mehr als 10 Jahre lang haben die Mitglieder einer rechtsextremistischen Bande unbekannt rauben, töten und Anschläge wie den in der Keupstraße verüben können. Vom Fremdenhaß getrieben, haben sie zu zerstören versucht, was uns in Deutschland wertvoll ist. Das selbstverständliche Miteinander der Verschiedenen, die offene und freiheitliche Gesellschaft. Heute stehen wir zusammen um dieses Miteinander, diese Offenheit und Freiheit zu stärken. Hier in diesem Viertel und überall in unserem Land. Das wir alle hier zusammenstehen ist auch eine Botschaft an alle Rechtsextremen und Verächter unserer Demokratie. Bei meiner Antrittsrede als Bundespräsident habe ich denen zugerufen, Euer Haß ist unser Ansporn. Und deshalb erfüllt es mich mit so großer Freude sie alle hier zu sehen.“ Gauck machte deutlich, als er den Besuchern, den Unterstützern und Künstlern dankte, dass dies die Mehrheit ist. Gauck rief aus: „Wir sind die vielen“ und weiter „Wir zeigen, wie wir in diesem Land leben wollen, respektvoll und friedlich. Wir gehören zusammen und wir stehen zusammen, um denen zu sagen, die von fremdenfeindlicher Gewalt bedroht sind, ihr seid nicht allein.“

Gauck spricht von bösem Erwachen

Der Bundespräsident erzählte von seinem Treffen mit Angehörigen von Opfern der Anschläge und den Gesprächen in der Keupstraße und von den vielen Fragen, die noch offen seien: „Wie sicher kann ich mich fühlen in diesem Land? Warum ist es ein Jahrzehnt nicht gelungen die Täter zu fassen? Warum dauert die juristische und politische Aufarbeitung so lange? Warum haben Polizei und Behörden ausländerfeindliche Tatmotive ausgeschlossen? Warum haben sie dem, was die Betroffenen und Angehörigen zu sagen hatten zu wenig Bedeutung beigemessen? Es sind Fragen, die sie gestellt haben, die uns aber auch alle angehen. Auch ich zählte damals zu den Bürgern, die immer wieder in der Zeitung lasen. Auch ich glaubte nicht daran, dass in unserem Land eine rechtsextreme Terrorgruppe so lange unerkannt bleiben konnte. Auch ich musste erkennen, dass menschenfeindlicher Fanatismus umgeschlagen war in Mord. Das war ein böses Erwachen.

Die Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt, angestossen von meinem Vorgänger im Amt Christian Wulff damals kurz nach der Enttarnung der Täter ein wichtiges Zeichen gesetzt hat. Ein Zeichen der Trauer, des Entsetzens, aber auch des Zusammenstehens und der Entschlossenheit. Ich habe damals in der Zeit als Kandidat, an dem Empfang teilgenommen und in Gesprächen mit den Angehörigen gespürt, wie wichtig dieses Zeichen war. Inzwischen sehen wir um einiges klarer, in den Untersuchungsausschüssen, in den Behörden, auch im laufenden Gerichtsverfahren, wird buchstäblich um Aufklärung gerungen.“ Gauck lobte auch die journalistischen Recherchen zum NSU Themenkomplex. Es sei wichtig, dass die Institutionen gewalttätigem Extremismus mit geschärften Sinnen und den geschäften Waffen des Rechtsstaates begegneten. Und es sei wichtig, dass weiter aufgeklärt wird, wo Fragen offen seien. Gauck weiter: „Aber, das ist mir an einem solchen Tag besonders wichtig. Das sich auch die Bürger immer wieder neu zusammenschließen und nicht auf die Institutionen warten. Wir Demokraten stehen weiter zusammen und bekräftigen unser Versprechen. Wir schenken denen die Gewalt und Hass verbreiten nicht unsere Angst. Denn wir sollten sie nicht größer machen, als sie sind. Aber wir reden sie auch nicht klein. Wir wissen es gibt nur wenige, doch was die zerstören wollen ist uns unendlich wertvoll. Es ist das was unser Land ausmacht. Der Respekt vor der Würde des Menschen. Das Ja zu den Menschenrechten. Zur Achtung des Rechts und zu einem Leben im Pluralismus und Offenheit.“

Gauck forderte auf im Alltag füreinander einzustehen

Und wer Menschen, die hier leben Gewalt antut oder androht der spricht nicht für unser Deutschland. Ich danke allen Menschen, die für andere einstehen, wo aggressives und extremistisches Verhalten sich zeigt. Im Alltag kann und muss jeder von uns etwas tun, damit nicht Vorurteile und Haß das Miteinander der Vielen und Verschiedenen nicht vergiften. Nicht lachen über einen rassistischen Witz. Nicht mitmachen bei übler Nachrede. Nicht schweigen, wenn alle dröhnend schweigen. Sondern aufstehen, oder wie es hier heißt Zähne auseinander. Und wir fühlen es doch an einem solchen Tag wie heute. Dieses Fest schafft Großartiges.“ Das Fest sei ein Geschenk für die Keupstraße und für den Stadtteil und für Köln, das schon immer weltoffen und tolerant war. Und für das Land. Gauck verließ nach seiner Rede die Bühne. Dort sangen dann mit den Bläck Fööss, Wolfgang Niedecken, Karolin Kebekus, Brings, Zeltinger, die Höhner, aber auch Ministerin Löhrmann und der NRW Innenminister Jäger und viele andere das Lied vom Kölschen Stammbaum. 

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[infobox]Hinweis der Redaktion: Ab 16 Uhr war leider kein Liveticker mehr möglich, da ein schwerer Hardwareschaden das System von report-k.de außer Betrieb setzte.

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15:30 Uhr > Mehr Details zum Programm: Nach einer Schweigeminute soll Bundespräsident Joachim Gauck sprechen. Dann sollen alle Künstler zusammen den Bläck Fööss Hit Stammbaum intonieren. Danach werden die Fantastischen Vier, Brings, Zeltinger, Kasalla und Clueso. Die Höhner, Andreas Bourani, dann BAP, Maffay und dann Udo Lindenberg bevor alle Aktiven noch einmal auf die Bühne kommen werden.

15:14 Uhr > Das Gelände an der Schanzenstraße hat sich mittlerweile gefüllt. Und die Sonne scheint wieder. aktuell stehen Brings auf der Bühne und sind 30 Minuten vor Beginn des Festivals beim Soundcheck. Die Menge rockt schon mit bei „Kölsche Jung“. Viele Menschen haben einen Sonneschirm aufgespannt um sich vor der extrem heißen Sonne zu schützen. Aber besser als eine Sturmwarung und Abbruch des Festivals, der kurzzeitig als eine Gewitterfront über das Gelände zog in die Überlegungen der Verantwortlichen einfloss.

13:30 Uhr > Joachim Gauck hat heute den Fríseursalon in der Keupstraße besucht, vor dem die Nagelbombe am 9. Juni 2004 gegen 16 Uhr explodiert ist. Ein feiger Anschlag des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) gegen den jetzt vor dem Oberlandesgericht in München verhandelt wird.

Noch ist der Andrang übersichtlich. Das am Morgen noch schöne Wetter hat sich mittlerweile sichtlich eingetrübt. Im westlichen Rheinland soll es bereits eine Sturmwarnung geben. Sollte es wirklich auch für Köln eine Sturmwarnung geben, dann wäre unklar ob das Festival überhaupt starten kann. Dies hofft natürlich in Köln derzeit niemand.

Kurz nach 11 Uhr hatte die Kölner Polizei begonnen den Bereich Mülheim großräumig abzusperren. Viele Straßen sind gesperrt, außer Polizeifahrzeugen, Rettungsdienst und Fahrradfahrern darf keiner mehr fahren. Die Bürger halten sich aber daran und es scheint, dass nicht viele versuchen werden mit dem eigenen PKW anzureisen. Polizei und Rettungskräfte sind mit einem riesigen Aufgebot vor Ort.

Schon kurz nach 12 Uhr standen die ersten Besucher an den Eingängen und wurden mit dem Soundcheck unter anderem von Udo Lindenberg und mehreren anderen belohnt. Aktuell ist Peter Maffay für den Soundcheck auf der Bühne. Der THW baute noch eine Rettungswegbrücke über die Gleise der KVB Bahnlinie in Richtung von Sparr Straße – just in Time. Gegen 12:30 schoben dann auch die ersten Brezelwagen in Richtung Festivalgelände. Dieses übt einen eigentümlichen Charme aus. Zwischen Schuttbergen stehen riesige Frittenlaster und Bierbuden. Noch kann man sich nur schwerlich vorstellen, dass hier gleich 40.000 Menschen sein werden.

Auf der Keupstraße ist auch heute reger Betrieb und der Sprengstoffspürhund der Kölner Polizei vermittelt ein seltsames Gefühl. Allerdings sind heute wesentlich weniger Menschen – derzeit hier noch unterwegs als gestern. Darunter auch immer wieder Politprominenz, wie Kölns Oberbürgermeister Jürgen Roters der im Eingang eines Currybüdchens vor dem Regen Unterschlupf suchte. Auch die stellvertretende Ministerpräsident Löhrmann spazierte schon über die Schanzen- und Keupstraße.

Autor: Andi Goral
Foto: Schweigeminute: Bundespräsident Gauck mit seiner Lebensgefährtin und Hardy Krüger